Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Vorwort

Der Krieg traf mich mitten in den Vorbereitungsarbeiten für den XXI. Weltfriedenskongress, der im September 1914 in Wien hätte stattfinden sollen. Er wäre berufen gewesen, ein Vierteljahrhundert der neuern Friedensbewegung zu beenden, die im Jahr 1889 mit dem ersten Weltfriedenskongress zu Paris eingesetzt hat. In monatelanger Arbeit waren alle Vorbereitungen für jene Veranstaltung getroffen, zu der aus allen Ländern Anmeldungen vorlagen, als Schlag auf Schlag die Weltkatastrophe hereinbrach. Es ging damit eine Ahnung in Erfüllung, die Bertha von Suttner bereits am 12. Februar des Unheilsjahres in einer Eintragung ihres Tagebuchs zum Ausdruck brachte. Sie notierte damals: «Die Presse - Kriegshetze zwischen Österreich und Russland ist in vollem Schwung.Vielleicht bricht Krieg aus, und es wird dadurch der Kongress unmöglich.»Das Ereignis kam uns daher nicht so unerwartet, wie Viele meinten. Aber wir wollten bis zum letzten Augenblick unsre Pflicht tun. Vielleicht wäre es doch anders gekommen, wenn dieser Wiener Friedenskongress, der zu den glänzendsten in der langen Reihe dieser Kongresse gehört haben würde, im Palast des österreichischen Reichstags hätte zusammentreten können.

Dennoch traf mich das Ereignis wie ein Donnerschlag. So sehr man sich im Laufe von Jahren mit seiner Möglichkeit vertraut gemacht hatte, ich konnte, als es schon greifbare Wirklichkeit war, noch lange nicht daran glauben. In der ersten Augustwoche meinte ich, es müsse sich doch noch etwas ereignen, das dem Wahnsinn Einhalt gebieten könnte. Aber es wickelte sich alles glatt ab auf der einmal betretenen Bahn der schiefen Ebene. Und da begriff ich endlich, was vor sich ging, was kommen musste. Gerade der jahrzehntelange Kampf gegen das Unheil liess mich erkennen, dass es kein kurzer, kein gewöhnlicher in den bisherigen Formen sich abrollender Krieg sein werde. Des Abgrunds Tiefe sah ich in voller Deutlichkeit vor mir und blieb daher immun gegenüber dem auf Betäubung und Stimmungsmache dienenden Geklirr der Öffentlichkeit. Ich litt unter dieser Kassandra-Situation, litt furchtbar unter der entsetzlichen Isoliertheit, an dem Mangel einer Aussprache mit Gleichgesinnten und gleich mir unbeirrt Gebliebenen.

In dieser Stimmung begann ich mein Tagebuch zu schreiben. Ausdruck verleihen wollte ich meinen Empfindungen, meiner Erkenntnis, meinen Befürchtungen und Hoffnungen. Die Ereignisse wollte ich festhalten, sie vom pazifistischen Gesichtspunkt aus erörtern, am Krankheitsverlauf des fiebernden Europas die Fehler der Vergangenheit klarlegen und den Weg zur Genesung weisen.

Von vornherein war es meine Absicht, meine Eintragungen wenigstens in Bruchstücken sofort zur Veröffentlichung zu bringen. In meiner «Friedens-Warte», die in Berlin erschien, sollten sie allmonatlich zum Abdruck kommen. In Wien, wo ich wohnte, schrieb ich sie nieder. Diese Umstände sollen für die Eintragungen der ersten Monate die erkennbare Zurückhaltung und die Umschreibung des Ausdrucks erklären. Die Hemmungen der Umwelt machten sich nicht nur bei der Niederschrift geltend, sondern auch bei der Erfassung der Vorgänge. Aber mein Empfinden hielt mich in dieser Finsternis auf der richtigen Fährte. Wer zu lesen versteht, wird auch in den Eintragungen der ersten Monate meine Bedenken, meine Ahnungen, die sich immer mehr zu einem entsetzten Erkennen verdichteten, herauslesen können.

Zum Lesen eines Tagebuchs gehört überhaupt eine gewisse Einstellung. Es sind Eindrücke, die hier festgehalten wurden, Eindrücke unter den wechselnden Stimmungen des Tags und unter dem Einfluss der jeweiligen Erfahrungen und der jeweiligen Erkenntnis der im Fluss befindlichen Ereignisse. Was heute abgeschlossen und vollendet vor dem Auge des Lesers steht, lag vor dem Schreibenden noch im Werdegang. Ich habe mich bei mancher Einschätzung getäuscht, Manches für wichtiger gehalten als es mir heute erscheint, aber doch auch oft die Entwicklung richtig vorausgesehn und in manchem unwichtig sich gebenden Vorgang die ihm innewohnende Zukunftsbedeutung erkannt. Das Impressive ist eben vom Persönlichen nicht zu trennen.

Als die Hemmungen fielen, und mein Blick für die Vorgänge sich klärte, war ich der Notwendigkeit enthoben, umzulernen oder mich zu berichtigen. Ich hatte keinen Irrtum zu bekennen. Nur vermochte ich später mit der gewonnenen Möglichkeit bessern Überblicks und der Freiheit des Ausdrucks das vorher nur Angedeutete unumwunden zu sagen.

Mein Kriegstagebuch soll keine Kriegschronik sein, keine lückenlose Wiedergabe einer Folge von Ereignissen. Aber vielleicht wird es als eine Spiegelung der Ereignisse im Denken und Fühlen eines Zeitgenossen der grossen Menschheitstragödie nicht ohne Interesse sein. Als die Eindrücke eines bescheidenen Mitkämpfers jener Geistesarbeit eines Vierteljahrhunderts, die der Vermeidung dieser Katastrophe galt, die erst im Blutdunst dieser Katastrophe bei den Vielen Anerkennung und Verständnis fand, können diese Aufzeichnungen für die Gegenwart vielleicht von Nutzen sein. Gilt es doch aus dem Erleben dieses Kriegs heraus der grossen Idee der Völkerfriedfertigung zum Sieg zu verhelfen.

Aus diesen Gründen habe ich mich zur zusammengefassten und vollständigen Veröffentlichung meines Kriegstagebuchs entschlossen. Nur wenige Stellen, die mir nebensächlich oder uneben erschienen, habe ich weggelassen. Diesem vorliegenden ersten Band, der das erste Kriegsjahr umfasst, sollen in rascher Folge die weitern Bände mit den Eintragungen der bisher abgerollten Kriegsjahre folgen. Wieviel Kriegsjahre das Gesamtwerk umfassen wird, rührt an die bange Frage, an deren Nichtbeantwortung die Menschheit krankt. Möge die rettende Lösung nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Spiez am Thunersee, September 1918.

Alfred H. Fried