Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 6. Juni.

Im «Berliner Tageblatt» vom 3. Juni lese ich nachstehende Notiz:

«Russische Kultur. Ein Denkmal der Tätigkeit russischer Kulturträger ist gegenwärtig im Schaufenster einer Klavierhandlung in der Leipziger Strasse zu sehen. Es ist ein Pianino aus einer der zerstörten Ortschaften Ostpreussens. Der Deckel und die Vorderwand des Instruments sind verschwunden, die Tasten sind zertrümmert und zersplittert, die Saiten und Hämmer herausgerissen, das Ganze ein wüstes Durcheinander. Eine sinnlosere, brutalere Zerstörung kann man sich kaum vorstellen».

Man denke! —

Zwanzig Millionen Menschen bearbeiten sich täglich in Europa mit den sinnreichsten Zerstörungsmaschinen, und dabei wurde auch ein Klavier zerstört. Wie töricht ist es doch, dieses Klavier mit der verschwundenen Vorderwand gleich als ein Denkmal «Russischer Kultur» hinzustellen. Man ist doch so furchtbar entrüstet, wenn die Franzosen mit der Kathedrale von Reims ähnlichen Unfug treiben. Und schliesslich ist doch so ein Klavier etwas weniger Bedeutendes als die Kathedrale. Ganz unglaublich klingt der Satz «eine sinnlosere, brutalere Zerstörung kann man sich kaum vorstellen». Oh ja! Man kann sich das wohl vorstellen und braucht sein Vorstellungsvermögen nicht einmal sehr anzustrengen. Der Objekte gibt es im Überfluss.

* * *

Eine Episode möchte ich hier festhalten, über die der «Manchester Guardian» vom 19. Mai berichtet. Es fand in London (Browning Hall) am 18. Mai eine Friedensfeier zum Jahrestag des Zusammentritts der ersten Haager Konferenz statt. Verschiedene Vorträge wurden gehalten. Das Parlamentsmitglied C. W. Bowerman sagte, es könne nicht zum Frieden kommen, ehe nicht der brutal-preussische Militarismus der Vergangenheit angehöre. Dabei fügt der Bericht folgenden Zwischenruf ein: «Und der Militarismus jedes Landes! — Der Militarismus ist in jedem Lande das Gleiche!» —