Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

16. September 1914.

Das Zwischenspiel der serbischen Invasion in Syrmien und im Banat ist vorüber. Heute wird offiziell gemeldet, dass die Serben wieder über die Save gedrängt sind. Vom französischen Kriegsschauplatz, wo seit 8—10 Tagen zwischen Verdun und Paris eine Schlacht geliefert wird, liegt keine Nachricht vor. Sichtlich werden alle Aktionen lahmer. Das frische Tempo des Anfangs lässt nach. Der Krieg verlässt das akute Stadium und wird chronisch. Diese Aussicht bringt uns zur Verzweiflung. Man sieht jetzt eine lange Dauer voraus. Die Vermittlungsanerbieten des Präsidenten Wilson und des Papstes dürften vergeblich gewesen sein. Man denke sich diesen Krieg ein Jahr lang dauern, mit seinen Opfern, seinen Wirtschaftshemmnissen, seiner Kulturvernichtung, mit diesen Widerlichkeiten, die jetzt im öffentlichen Leben zum Vorschein kommen. Nicht auszudenken! Und es hat fast den Anschein, als ob er ein Jahr dauern würde.

Aus einem Artikel des sonst so vernünftigen «Vortrupp» (Nr. 18, S. 547) sei doch etwas hier festgehalten: «Geplant war er (der Krieg) erst für 1916, wenn England den Vorsprung seiner Flotte noch vergrössert, Russland sein Eisenbahnnetz besser ausgebaut, Frankreich sich in die dreijährige Dienstzeit eingelebt haben würde». Man sieht, wie sich die Präventiv-Formel in den Köpfen festsetzt. Diese Schreiber tun so, als ob Deutschland in den kommenden zwei Jahren brach gelegen hätte. Sie vergessen, welche Erweiterungspläne für Heer und Marine die Wehr- und Flottenvereine bereits propagiert hatten. Jene drei Entwicklungen hätten auch ein entwickelteres Deutschland vorgefunden, und der Krieg wäre wieder vertagt worden. «Wir wissen heute», so fährt der Verfasser fort, «dass seit mindestens zehn Jahren der Angriff auf uns bei unseren drei Hauptgegnern beschlossene Sache war». Wieso wissen wir das? Nach 1905 war Russland geschlagen und ohnmächtig, und Deutschland dachte nicht daran, sich seiner zu erwehren. Hätte man das seit zehn Jahren gewusst, wie leicht wäre es gewesen, nach Tsushima den angeblichen Plan zu durchkreuzen. Wir haben von 1905—1911 den Marokkokonflikt gehabt, Casablanca, die Annexionskrisis, und alles ging ohne Krieg vorbei. Plötzlich sollen wir uns einreden lassen, dass der Überfall beim Dreiverband seit zehn Jahren beschlossene Sache war?

Mit solchen Tiraden sucht man nun den Präventivkrieg zu rechtfertigen. Denn auch hier wird der gegenwärtige Krieg als solcher bezeichnet und der frivole Satz ausgesprochen: «Nie hat selbst Franz Ferdinand seinem Vaterland mehr gedient als im Tod». Dieser war dem Verfasser nur das willkommene Ereignis, den angeblich so schwarzen Plänen der Gegner vorzubeugen.

Und noch einen netten Satz aus diesem Artikel: «Viele sagen, länger als neun Monate kann der Krieg nicht dauern, weil wir dann bankrott sein werden! Friedensideen! Unfähigkeit, sich in die Neue Zeit hineinzudenken! Der Krieg wird genau so lange dauern, bis unsere Feinde niedergeworfen sind, mögen darüber vier Monate oder vier Jahre vergehen. Wird das Geld knapp, so werden wir unseren braven Offizieren und Beamten den Sold kürzen, unseren Staatsbürgern die Hälfte ihres Privatvermögens konfiszieren, die Banken leeren, das besetze Feindesland wie eine Zitrone auspressen ...»

Nun, und was dann? möchte man ganz bescheiden fragen. — Man sieht, welche Auswüchse der Phantasie der Krieg zeitigt und welches Gewäsch dem Volke als «Patriotismus» vorgesetzt wird.

Dieser Querkopf stolpert über die Frage nicht, ob denn solch ein Risiko nicht besser doch noch vertagt worden wäre, selbst auf die ungewisse und unbewiesene Annahme hin, dass ein solcher Krieg in zwei Jahren nötig geworden wäre.