Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 21. Oktober.

In den nur halböffentlichen Ausschüssen des Reichstags kämpfen einige Vertreter des deutschen Volks gegen den furchtbaren Druck des aus der Reaktionsperiode von 1851 herrührenden preussischen Gesetzes über den Belagerungszustand. Gegen die unerträglichen Zustände der sogenannten Schutzhaft und der Zensur wird, allem Anschein nach vergeblich, Sturm gelaufen. Das Volk, das von seinem 18. bis zum 47. Lebensjahr für geeignet befunden wird, die «Fortsetzung der Politik» mit seinem Leben zu betreiben, wird nicht für mündig genug erachtet, um auf den Betrieb jener Politik Einfluss zu nehmen. Zensur und Schutzhaft sollen es davor schützen, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Und während dieses Volk einst in jenen so sehr bewunderten Seelenaufschwung versetzt wurde durch die Parole «Gegen den Zarismus, gegen Knute, Sibirien, Kosakentum», wühlt ein Teil der Beherrscher der öffentlichen Meinung für einen Separatfrieden mit Russland. Für den Krieg hat man einst Russland als Köder für das Volk gebraucht, für die Knechtung des durch den Krieg zu dem Wunsch nach seiner berechtigten Souveränität erwachenden Volks, braucht man heute den Frieden mit Russland als Köder. Es handelt sich bei diesen Sympathiefriedensversuchen keineswegs um den Frieden, den könnte man im Westen sicherer und besser bekommen, sondern um die Zukunft der innern Politik. Man will die Anlehnung an den einst als so abscheulich geschilderten Zarismus, an Knute, Kosakentum und Sibirien, um Arm in Arm mit den Trägern jener Einrichtungen die erwachte Bestie der Demokratie im eigenen Land zu bändigen. Und darum der Hass gegen England, die Versuche zur Durchführung eines so rücksichtslosen Kriegs gegen jenes Land, dass eine Verständigung mit ihm auf Jahrhunderte unmöglich wird. Man fürchtet an England die Stärke der deutschen Demokratie und liebt an Russland die gefestigte Macht des bedrohten Junkertums.