Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 7. Juli.

Der alldeutsche Verlag J. F. Lehmann in München hat eine Broschüre, «Deutschlands Zukunft bei einem guten und bei einem schlechten Frieden» betitelt, herausgegeben, die vom alldeutschen Verband in vielen tausend Exemplaren im Volk und an der Front verbreitet wurde.

Die in diesem Buch aufgestellten alldeutschen Kriegsziele sind, nach einer übersichtlichen Zusammenstellung, die «Fidelis» im «Vortrupp» vom 1. Juli veröffentlicht, folgende:

1. a) Wir müssen Kurland und Litauen in unserm Besitz behalten, und, «wenn irgendmöglich», Livland und Estland dazugewinnen.

b) «Wenn irgendmöglich» ist dafür zu sorgen, dass an unsrer östlichen Grenze ein (weiterer) Streifen Landes vorgelegt wird, dessen Bevölkerung im Tausch gegen deutsch-russische Kolonisten umgesiedelt werden. Es handelt sich um ein Gebiet von 1 600 000 ha. «Unter allen Umstanden» müssen Wilna (auch jenseits des litauischen Teils), Grodno und Minsk als deutsches Siedlungsland in Anspruch genommen werden.

2. a) Die französische Hochebene von Briey und Longwy muss uns zufallen.

b) Wir müssen Belgien, wenigstens den größten Teil davon, besonders die flandrische Küste, militärisch, politisch und wirtschaftlich in der Hand behalten.

c) «Wenn irgendmöglich», sollten wir auch den nördlichen Teil des Pas de Calais mit Dünkirchen, Kales (Calais) und Boonen (Boulogne) dazugewinnen und zu Flamland schlagen.

Aus den abzutretenden Gebieten ist die französische Bevölkerung auszusiedeln. Vielleicht wäre es zweckmäßig, Frankreich durch Teile Wallonicns zu entschädigen.

3. In Afrika wird ein großes deutsches Kolonialreich geschaffen, und zwar folgendermaßen:

a) Mit Belgien kommt auch der belgische Kongo unter unsre Oberherrschaft.

b) Portugal verliert seine sämtlichen afrikanischen Kolonien, also Angola, Mozambique usw., ferner die Azoren, Madeira, die Kapverdischen Inseln, San Thomes und Principes.

c) Wir nehmen die französischen Besitzungen in Mittelafrika, Äquatorialafrika, Saharagebiet und in Französisch - Somaliland. Auch Französisch - Marokko mit Tanger und Tunis kommen unter deutsche Leitung.

d) Die Engländer treten uns in Afrika ab: Englisch-Somaliland, Englisch-Ostafrika, Uganda, Nyassaland und Sansibar. Von englischen Besitzungen in Britisch-Westafrika werden Nigeria und die Goldküste als wünschenswerte Erwerbungsgegenstände für uns bezeichnet.

e) Auch die Angliederung größerer Stücke des italienischer! Kolonialbesitzes an unsere afrikanischen Kolonien ist «unter Umständen» wünschenswert.

4. Die Engländer werden aus dem Mittelmeer vertrieben und zwar so:

a) Ägypten und der Sudan kommen wieder unter ihre alte Dynastie und unter die Oberhoheit der türkischen Pforte.

b) Die Aktien des Suezkanals gehen in den Besitz der Mittelmächte über.

c) Malta, Cypern, Aden, Perim, Sokotra und Kuweit «gelangen in eine starke Hand, welche sie gegen Englands Seemacht zu verteidigen vermag».

d) Gibraltar muss «deutsch werden oder an Spanien zurückgegeben und neutralisiert werden».

5. Österreich-Ungarn wird vergrößert um die Walachei, um ein Drittel Serbiens, um Montenegro und Albanien, und erhält einen starken Kriegshafen in Valona.

6. Bulgarien erhält die andern zwei Drittel von Serbien, die Dobrudscha und die Teile der mazedonischen Küste, die ihm im Frieden von Bukarest entrissen worden sind.

7. Deutschland lässt sich von England einen Teil von dessen Kriegsflotte abtreten.

8.a) Die Feinde haben die deutschen Kriegskosten und Kriegsschäden (einschließlich der deutschen Rüstungsausgaben für etwa weitere vierzig Jahre) zu decken, im Gesamtbetrag von 200 Milliarden Mark; desgleichen die Kriegskosten und die Kriegsschaden unsrer Bundesgenossen im Betrag von weit über 150 Milliarden Mark.

b) Die Deckung eines Teils dieser Kriegsentschädigung erfolgt dadurch, dass England, Frankreich, Russland, Italien und Portugal ein jedes die Hälfte seiner Handelsflotte an die Mittelmächte abzutreten haben. Von Nordamerika und Japan wird das nicht verlangt, dafür geht aber die belgische Handelsflotte ganz in den Besitz der Mittelmächte über. — Das soll zusammen einen Wert von etwa vier Milliarden Mark ergeben.

c) Weitere 59 1/2 Milliarden der Kriegsentschädigung für Deutschland sollen dadurch gedeckt werden, dass in den eroberten Gebieten Frankreichs, Belgiens, Russlands und Rumäniens (es wird angedeutet, dass auch Polen in Betracht kommen könnte) alles staatliche und private Eigentum, das sich zur öffentlichen Bewirtschaftung eignet, vom Deutschen Reich in Besitz genommen und bewirtschaftet wird. Genannt werden vor allem Eisenbahnen, Wasserstrassen, Hafenanlagen, Lagerhäuser, Kohlengruben, Bergwerke, Ölquellen — ferner alles Land, das sich zur Bildung bäuerlicher Rentengüter eignet.

Privatbesitze, die hierbei enteignet werden, sind vom Feind zu entschädigen.

Unsere Bundesgenossen sollen Entsprechendes in Italien, Serbien und Rumänien vornehmen.

d) Die auf diese Weise nicht gedeckten Milliarden müssen die Feinde bezahlen durch Einfuhr von Rohstoffen und Nahrungsmitteln.

Darüber ist nicht zu lachen! Es ist gefährlich, den alldeutschen Wahnsinn noch immer humoristisch zu nehmen. Dieser Wahnsinn kostet Deutschlands Blut und Wohlstand, dieser Wahnsinn hat Europa in die Vernichtung getrieben.

Menschen dieses Geisteszustands haben den Krieg verursacht, indem sie den Körper des Volks und seine Führer mit solchen Ideen vergifteten.

Kriegsziele dieser Art sind es, die die Koalition der Gegner geschaffen und ihre Hartnäckigkeit hervorriefen. Dass solche Forderungen von Deutschland erstrebt werden könnten, ist die Furcht der Gegner und begründet ihr Verlangen nach völliger Niederwerfung und Bezwingung Deutschlands und seiner Verbündeten.

Wenn diese Leute, die solche verderbliche Meinungen veröffentlichen und verbreiten, nicht bald an den Platz gelangen, wo sie hingehören, ins Irrenhaus oder an den Galgen, wird das Leid des deutschen Volks kein Ende nehmen.

Die Alldeutschen sind vor dem Krieg von den Militärs und der Rüstungsindustrie unterstützt worden. Sie haben dadurch als zahlenmäßig kleine Schar einen ungeheuren Einfluss gewonnen. Dadurch haben sie das Ausland in Furcht gesetzt und haben dort jene Zusammenschlüsse und Abwehrmaßnahmen hervorgerufen, in denen die Regierung Deutschlands die Gefahr der Umzingelung und Erwürgung erblickte. So haben jene wahnsinnigen Köpfe diesen Krieg hervorgerufen und das Unheil der Jahrhunderte erzeugt.

Und diesen Leuten hat Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg es als vaterländisches Verdienst angerechnet, dass sie die Friedensbewegung (nach der Reichskanzlers Terminologie «die Verbrüderungsideologie») bekämpften.

Die Verhandlungen des österreichischen Parlaments haben die Schreckensherrschaft der Militärgerichte in das Tageslicht gerückt. jeder vernünftige Mensch musste es angesichts jener unerhörten Verfehlungen gegen die Bürger der Doppelmonarchie als ein Glück preisen, dass die kaiserliche Amnestie mit einem Schlag das Unheil, soweit es noch reparabel ist, wieder gut zu machen suchte. Aber der deutsche Nationalverband sah sich veranlasst, dem Ministerpräsidenten dafür sein Misstrauen auszudrücken. Der deutsche Nationalverband unterdrückt auch hier wiederum aus Gründen nationaler Natur das Menschlichkeitsempfinden und zeigt dadurch, wie Grillparzer im Recht war, als er darauf hinwies, dass der Weg von der Nationalität zur Bestialität führe.