Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 31. Januar.

In der Nacht vom 29. zum 30. Januar ein Zeppelinraid über Paris. Dreizehn Bomben. Neun Häuser eingestürzt. Bis jetzt festgestellt: 24 Tote und 28 Verletzte. Vielleicht Vergeltung für den Fliegerraid über Freiburg, der am Abend des 27. Januar stattfand. Nun schreien die französischen Journale abermals nach Vergeltung. — Wozu?

Im Oktober 1907, als die ersten gelungenen Versuche mit dem Zeppelin-Luftschiff bekannt wurden, schrieb Bertha v. Suttner in der Friedens-Warte (1907, S. 193):

«Die Bewunderer der verbesserten Kriegsmittel vergessen immer nur, dass sie den Gegnern die gleichen Vorteile bringen und daher die eigenen paralysieren. Was beiden Seiten dabei sicher ist, sind die erhöhten Schrecken und — erhöhten Budgets. Man denke sich einmal die allgemeine Einführung von Luftflotten, Lufttorpedos, Luftminen ... Schlafende Vernunft, — was braucht es denn noch, um Dich zu wecken?»

Schläft die Vernunft so fest, dass auch die platzenden Fliegerbomben hier und dort sie nicht zu wecken vermögen? — Ist sie am Ende tot? —

Ein trauriges Produkt skruppelloser Gutgesinntheit ist die Schrift des Zürcher Pfarrers Dr. Adolf Bolliger, «Tatsachen» betitelt, mit der «das Sendschreiben der französischen Protestanten an die Protestanten der neutralen Staaten» beantwortet wird.

Man müsste einen dicken Band schreiben, um das Gesalbader zu widerlegen. Das haben andere bereits getan. Wie sehr aber diese Überanstrengung der Gutgesinntheit, der Sache, der sie dienen will, schadet, ergibt sich aus der darin enthaltenen offenen und unverhüllten Darlegung des Präventivcharakters dieses Krieges seitens Deutschlands und Österreichs. So unbedingt hat das bis jetzt noch keiner zugegeben.

Da heisst es auf S. 23 und F.:

«Und nun die Deutung der Ereignisse vom Juli und August 1914. Da liegt vor: Österreichs in dem berüchtigten Reitpeitschenstiel abgefasstes Ultimatum an Serbien, das, wenn nicht Zeichen und Wunder geschehen, den Weltbrand herbeiführen musste (!). Gewiss war die deutsche Regierung Mitwisserin (!). Die österreichische Regierung konnte in einer Sache von solchem Belang die deutsche Regierung nicht in Unwissenheit lassen. Darüber kann unter klardenkenden Menschen nicht diskutiert werden. — Die verhindernden Zeichen und Wunder blieben aus. Wohl hat der deutsche Kaiser mit dem Zaren liebe, feine Worte über Isolierung des österreich-serbischen Konfliktes und einiges andere ausgetauscht. Er hat, wenn auch recht spät, in Wien Nachgiebigkeit gegenüber Serbien empfohlen (hier fügt der Verfasser folgende Anmerkung an: «Das gehört zum diplomatischen Handwerk, damit vor dem Volk, das nachher so ungeheure Lasten zu tragen hat, der Schein gewahrt bleibt, es seien schlechthin alle Mittel versucht worden, die Katastrophe zu verhüten») (!!). Er hat alles getan, nur das Eine und Einzige nicht, was den Krieg verunmöglicht hätte. Er hat in Wien nicht erklärt, dass man sich an den serbischen Zugeständnissen müsste genügen lassen, im andern Fall verneine er den Casus foederis und lasse Österreich die Folgen allein tragen. (!!) Warum wurde dies klar gegebene und unfehlbare Mittel nicht gebraucht? Meines Erachtens darum nicht, weil die deutsche Regierung den Krieg wollte, in Übereinstimmung mit der österreichischen wollte. Also käme ich doch schliesslich mit Ihnen, französische Brüder, zu einem Verdammungsurteil über die deutsche Regierung? Mit nichten. Sie musste den Krieg wollen. Das Nicht wollen wäre Verbrechen gewesen. (!!!!) Wieso? Nun, der Krieg, der grosse, gegen die drei verbündeten Grossmächte war unvermeidlich (!). Das war längst ohne besonderen Scharfsinn zu erkennen. (Diese Behauptung ist eine der «Tatsachen» des Herrn Pfarrers). Bei dieser Sachlage gebot die Klugheit (die Klugheit?!) unerbittlich, die relativ günstigste Stunde zu wählen und die Wahl nicht dem übermächtigen Gegner zu überlassen. (Ein starkes Stück, jetzt, wo der Krieg nach achtzehn Monaten noch kein Ende erkennen lässt, von der «Klugheit» der Wahl zu sprechen. Um wieviel hätte es denn schlimmer sein können, wenn man abgewartet hätte, ob die eigne Zukunftsberechnung über die Unvermeidlichkeit dieses Kriegs stimmt?).

Die Rechnung war für Deutschland ausserordentlich einfach. Die gegenwärtige Stunde ist uns für den schrecklichen aber ganz unvermeidlichen Krieg günstiger als das nächste oder andernächste Jahr. Denn in zwei jahren wird Russland seine strategischen Bahnen fast vollendet und seine Rüstung wesentlich verbessert haben; Frankreich seinen dritten Jahrgang wohlausgebildet unter den Waffen haben; ein hochbetagter Herrscher, der die auseinanderstrebenden Völker Österreichs zusammenhält, wird in zwei Jahren die Augen vielleicht geschlossen haben, und so wird der einzige zuverlässige Bundesgenosse schwächer sein als heute. Wir haben eine gute Ernte, und die finanzielle Rüstung ist auch gut. Also ist das schrechkliche Wagnis zur Stunde Pflicht. Eine sehr triftige Gelegenheit zum Losschlagen hatte der Wettlauf herbeigeführt. Ich rede von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers. Also!

Deutschland nahm mutig das Odium der Kriegserklärung auf sich. Es war der Form nach ein Offensivkrieg, der Sache nach ein Defensivkrieg. Denn die Offensive war in diesem Fall die beste Defensive. Es war ein Präventivkrieg zur Defesnive; denn wer über einen übermächtigen Gegner siegen will, muss seinem Schlag zuvorkommen im Augenblick, da es ihm nicht passt. Alles in Ordnung, nach Regeln der Weisheit und Sittlichkeit in Ordnung! Ihre Anklage, liebe Mitprotestanten, trifft Deutschland nicht. Es hat gehandelt, wie es bei der wesentlich durch Frankreich herbeigeführten Weltlage zu seiner Rettung handeln musste».

Diese Offenheit wird der deutschen Regierung nicht angenehm sein. Der Geist, der sich in der ganzen Broschüre breit macht, ist haarsträubend. Ahnt der gute Verteidiger des Präventivkriegs nicht, dass man auf Grund seiner plumpen Einfalt der deutschen Regierung die schwersten Vorwürfe wird machen können, dass sie sich über die Unvermeidlichkeit des Kriegs geirrt und ihr präventives Eingreifen ein ungeheures Verbrechen gegenüber dem deutschen Volke und der ganzen Menschheit war? Ahnt er das wirklich nicht, oder handelt es sich hier um einen verkappten, ganz abgefeimten Feind Deutschlands?