Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 20. Juli.

Die Friedenszielresolution der Mehrheit ist in der gestrigen Sitzung des Reichstags mit 214 gegen 116 Stimmen bei 17 Enthaltungen angenommen worden. Rechnet man die Enthaltungsstimmen hinzu, so haben sich genau zwei Drittel aller Abstimmenden für einen annexionslosen Frieden ausgesprochen.

Die Stellung des neuen Reichskanzlers kommt nicht deutlich, in keinem Fall ganz deutlich, zum Ausdruck. Der Satz, dass Deutschland auch nicht einen Tag länger Krieg führen werden, bloß um gewaltsame Eroberungen zu machen, wäre beinahe eine Zustimmung zu einem Verzichtfrieden, wenn er nicht eingeleitet würde mit den Worten: «Deutschland hat den Krieg nicht gewollt. Es hat ihn nicht gewollt, um gewaltsame Eroberungen zu machen». Das schlägt, wenn unter «Deutschland» die für die Regierung verantwortlichen Personen gemeint sind, der Wahrheit derart ins Gesicht, dass der Nachsatz dadurch an Bedeutung verliert. Maßgebende und von der Regierung offenkundig unterstützte Kreise haben jahrelang den Krieg «gewollt», ihn vorbereitet und gefordert. Das geht aus der Presse, aus einer ungeheuren Literatur, aus Reden, aus Programmen, aus Taten hervor. Maßgebende und weite Kreise haben nach Ausbruch des Kriegs offen ihre Absicht auf gewaltsame Eroberungen kundgetan, wenn sie der Handlung auch eine andere Bezeichnung aufdrücken wollen. Darüber kann man doch gar nicht streiten. Den Wunsch nach gewaltsamen Eroberungen hören wir ja noch täglich und in den groteskesten Formen. Wäre Deutschland so siegreich geworden, wie man sich es vorgestellt hat, dann hätte sich keine Regierung gescheut, die phantastischen alldeutschen Eroberungspläne zu den ihren zu machen.

Es ist eine nur zu durchsichtige Anpassung an die veränderte Situation, wenn man sich jetzt als die nur zur Verteidigung ausgezogene Partei aufspielt, der nichts anderes im Sinn lag, als sich «erfolgreich durchgesetzt» zu haben.

«In diesem Geist wollen wir in die Verhandlungen eintreten«. Dieser Geist ist aber so grundverschieden von dem Geist der anderen Völker, dass dadurch der Krieg noch immer hinausgezogen wird.

«Wir können den Frieden nicht noch einmal anbieten, nachdem unsere ehrlich friedensbereit ausgestreckte Hand ins Leere gegriffen hat.»

Welch falsche Auffassung! Man kann den Frieden hundertmal anbieten, wenn man ehrlich dazu bereit ist. Und wenn das erstemal das Angebot nicht von Erfolg gekrönt war, so muss man die Ursache der Erfolglosigkeit untersuchen und sie beim zweitenmal zu vermeiden trachten. Hat Deutschland nicht statt der Hand die Faust ausgestreckt, hat es nicht diejenigen, über deren Nichteingehen auf den Vorschlag es jetzt sich verwundert stellt, im voraus als Besiegte gebrandmarkt? War das etwa klug? Und kann man ein solches Angebot noch als wahre Friedensbereitschaft bezeichnen. Aber in einem Punkt hat der Reichskanzler recht. Er, der auf Befehl des Kaisers, ohne Befragung der Vertreter des Volks in sein Amt eingesetzt wurde, er kann den Frieden nicht noch einmal anbieten. Ein Kanzler, der dem Volk verantwortlich ist, und nur mit seiner Zustimmung kommen kann, nach seinem Willen weichen muss, der könnte heute den Friedensvorschlag machen und würde seine Hand nicht ins Leere strecken.

Im übrigen ist die Kanzlerrede kleinlaut, sofern sie die äußere Politik, den Krieg, ins Auge fasst. Von einer Niederschmetterungsprophezeiung für die Gegner ist nichts mehr darin zu finden. Heute ist nur eher die Rede davon, dass man die Lage meistern könne, dass man der weiteren Entwicklung der militärischen Lage mit ruhiger Sicherheit entgegensehe. Der Friedenswunsch dringt deutlich durch die Zeilen durch, und es braucht keine gewaltsame Konstruktion, um die Rede als ein neues Friedensangebot anzusehen. Aber was nützt das? Hinter dem Redner standen die Militärs. Man merkt ordentlich, wie sie ihm soufflierten. Die Welt will nun aber nach diesem unerhörten Krieg einen Frieden, den nicht die Militärs beeinflussen, sondern die allein zur Teilnehmerschaft in der künftigen zwischenstaatlichen Organisation geeignete Demokratie.