Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 1. Mai.

Die österreichisch-ungarische Marine hat einen Erfolg zu verzeichnen. Das Unterseeboot Nr. 5 hat den französischen Kreuzer «Leon Gambetta» nächtlicherweile torpilliert. 742 Menschen sind untergegangen. Das ist natürlich ein Sieg und wird als solcher bejubelt. Ich kann mich dennoch des Entsetzens nicht erwehren über eine Tat, die mit einer Handbewegung 742 blühende Menschenleben erbarmungslos ins Meer versenkt wie eine Schachtel Maikäfer. Eine Einrichtung, wo solches gut sein kann, ist unmöglich etwas mit unsren Begriffen von Menschentum und Kultur Vereinbares. Entweder wir lügen hier oder bei der Kulturarbeit des Friedens.

Über die Wirkung der in den Kämpfen um Ypern verwendeten erstickenden Gase wird jetzt von einem zur Beobachtung der dadurch bewirkten Krankheitserscheinungen entsandten englischen Arzt berichtet. Die Opfer rangen nach Atem und waren blau im Gesicht. Akute Bronchitis und Erstickung waren die Todesursache. «Der kanadische Hauptmann sagte aus, er habe zuerst gesehen, wie eine weisse Rauchwolke sich aus den deutschen Schützengräben bis zu einer Höhe von ungefähr drei Fuss erhob. Darauf erschien von diesem weissen Rauch eine grünliche Wolke von nicht mehr als sieben Zoll Höhe. Diese Wolke glitt längs des Bodens bis zu den englischen Schützengräben und zwang die Leute zur Flucht. Eine Anzahl von ihnen ist umgekommen. Eine Viertelstunde später fand der Hauptmann bei einem Gegenangriff auf einem kleinen Raum, der zu einem Graben führte, 24 Kanadier erstickt vor».

So ungefähr vertilgt man bei uns die Wanzen. Ich denke an Sombarts «Heiligstes auf Erden».

Über ein ähnliches Verfahren zur Vernichtung von Läusen bei den russischen Gefangenen spricht ein Artikel im «Berliner Tageblatt» (29. April). Die Kleiderbündel der Gefangenen werden danach in einen Raum gebracht. «Ein kleiner Ofen wird hereingetragen, wird mit drei Liter einer milchigweissen Masse gefüllt und angezündet. Die Türen werden verschlossen, verriegelt. Fünf Stunden lang hängen nun die Kleider in einem erstickenden Dunst von Schwefel, Phosphor u.a., bis die letzte Laus gestorben, das letzte Lauseei seine Lebenskraft eingebüsst hat».

Also auch durch erstickende Gase!

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Mit nachfolgenden Worten leitet Dr. Paul Rohrbach einen Prospekt seiner Zeitschrift «Das grössere Deutschland» ein.

«Die Zeitschrift wurde (im April 1914) ins Leben gerufen, als die Zeichen dafür sich mehrten, dass Russland den Krieg gegen uns nicht nur vorbereitete, sondern unmittelbar im Schilde führte. Der Angriff Russlands aber bedeutete den Weltkrieg. Die plötzliche Verschlechterung der russischen Finanzlage seit 1913 hat dann Russland bewogen, die Kriegsfurie noch etwas früher aufzurufen, als selbst wir zunächst dachten. Alles andre war eine Folge des russischen Entschlusses, unter allen Umständen zu schlagen und den deutsch-österreichischen Widerstand gegen die Erdrückung Mitteleuropas durch das Moskowitertum zu brechen. Wir sahen den Weltkrieg kommen und nannten unsre Zeitschrift «Das grössere Deutschland». Das grössere Deutschland in unserm Sinne ist nichts andres, als das Deutschland, dessen moralische, wissenschaftliche, gewerbliche und technische Kultur in der Welt zu demjenigen Ansehen und Einfluss gebracht werden muss, die unserm Volk gebührt. Dr. Paul Rohrbach».

Das klingt wirklich höchst wunderbar! «Wir sahen den Weltkrieg kommen» — und gründeten deshalb eine Zeitschrift für Welt- und Kolonialpolitik. Wir sahen ihn auch kommen; suchten aber durch Anbahnung und Förderung zwischenstaatlicher Verständigung ihm vorzubeugen. Dass diesem Zweck das Rohrbachsche Organ dienstbar sein konnte, wird schwer zu behaupten sein. Es will mir auch die Logik nicht einleuchten, die in einem andern Satz des Rohrbachschen Prospektes enthalten ist.

«Zwei Tatsachen mögen mehr als alle Worte beweisen und bestätigen, dass diese Zeitschrift von Anfang an den richtigen Weg gezeigt und die Entwicklung richtig gesehen hat: die eine ist die, dass es ,das grössere Deutschland’ war, das schon geraume Zeit vor der russischen Kriegserklärung diese als unabwendbare Gefahr kommen sah».

Wenn man eine Gefahr kommen sieht, so hat man die Pflicht zu versuchen, ihr vorzubeugen und nicht sie ruhig herankommen zu lassen, um dann verkünden zu können «ich habe also doch recht gehabt». Wer verbürgt uns übrigens, dass Herr Rohrbach richtig gesehen hat? Kann es nicht eine fixe Idee gewesen sein, die schliesslich etwas zur Gefahr werden liess, was bei richtiger Beurteilung nie zu einer solchen geworden wäre?

Wenn Rohrbach den Weltkrieg «kommen sah», wenn er wusste, dass Russland einen Angriff im Schild führte, wie erklärt er dann das österreichische Ultimatum an Serbien und den Standpunkt der deutschen Regierung, dass der Konflikt der Monarchie mit Serbien lokaler Natur gewesen wäre?