Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Zürich, 29. September.

Nur Eine Ansicht ist zu hören: die völlige und wahrhaftige Demokratisierung Deutschlands bis in ihre letzten Konsequenzen, das ist die Abdankung der Hohenzollern, kann Deutschland vor der Doppelkatastrophe einer feindlichen Invasion und einer blutigen sozialen Revolution retten. Es gibt Optimisten, die meinen, dieser Umschwung könnte sich in einigen Wochen, ja sogar in einigen Tagen vollziehen. Ich glaube es nicht. So patriotisch sind die alten Machthaber nicht, um sich im Interesse des Volkes zu opfern. Sie werden vielmehr mit den bekannten Schlagworten das Volk zu einem verzweifelten Endkampf anspornen, ehe sie sich für verloren geben. Das ist noch verbrecherischer, als es die Heraufbeschwörung des Krieges war. Denn mit der Verbitterung des Endkampfes beseitigen sie für die Gegner alle jene Hemmnisse, die für einen nach langem und opferreichem — ach, so opferreichem! — Verzweiflungskampf endlich siegreichen Feind nötig wären. Schon sprechen Amerikaner von einer Zertrümmerung von Frankfurt und Köln durch riesige Fliegergeschwader, von einer Zurückhaltung aller deutschen Gefangenen, die im Frondienst das zerstörte Nordfrankreich und Belgien werden herstellen müssen, von einer Eidgenossenschaft amerikanischer Jünglinge, die sich gegenseitig verpflichten, keinen Deutschen gefangen zu nehmen, sondern jeden zu töten. Die große Geste der Abdankung, solange es dem Volk noch etwas nützen kann, wird Wilhelm II. nie finden. Und ohne diese Abdankung wird es nicht mehr gehen wenn morgen die Hindenburglinie durchbrochen ist, Bulgarien und die Türkei auf Gnade oder Ungnade sich ergeben haben werden. Aber bis es dahin kommt, lässt Wilhelm II., wie er es in seinen ersten Regierungsjahren einmal gesagt hat, lieber die 70 Millionen «auf der Strecke» liegen.