Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Mürren, 20. August.

Jetzt beginnt der Austausch der Schwerverwundeten mit Russland. Die ersten Deutschen und Österreicher sind in Sassnitz eingetroffen. Den Kriegsverherrlichern hat der Papst mit der Anregung zu diesem Austausch eigentlich keinen guten Dienst getan. Die Schilderungen darüber müssen abschreckend wirken, trotz der Bemühungen der Reporter, das Eintreffen der Verwundeten wie eine Art Ballfest darzustellen. Die liebenswürdige Sauce der Berichte lässt das Ereignis noch entsetzlicher erscheinen. Dieser Jubel, diese lachenden Gesichter, die uns da geschildert werden, riechen nach der Regie, bei der «Stimmung um jeden Preis» der oberste Grundsatz zu sein scheint. Was soll man sagen, wenn man folgendes liest: «Ganz vorn sass ein vollbärtiger Landwehrmann, der eine Binde über beide Augen trug. Unter der Binde quollen schwere Tränen hervor und rieselten über die hageren Wangen; aber es waren Freudentränen, wie der strahlende Gesichtsausdruck zeigte». Freudentränen? Tränen des tiefsten Unglücks, des erneut aufflammenden Entsetzens würden wohl den lieben Leser stören oder Anstoss bei der Zensur erregen? Darum müssen dem elenden Krüppel (auch seine beiden Arme waren gelähmt) in dem Augenblick, wo ihm die Rückkehr in das Vaterland seinen ganzen Jammer zu Bewusstsein bringt, schnell «Freudentränen» angedichtet werden. Ja, unsere Reporter sind grosse Seelenkenner. Es sind dieselben, die nach einem Todesurteil kaltblütig das Klischee gebrauchen: «der Verbrecher nahm das Urteil teilnahmslos auf.» Als ob sie mit Röntgenaugen in seine Seele geblickt hätten. Aber es handelt sich darum, einen Verbrecher zu kennzeichnen, so muss er auch dem Todesurteil gegenüber als Rohling erscheinen, wie sie glauben, den heimkehrenden Kriegskrüppel nur durch eine ihm angedichtete Dulliäh-Stimmung als Patrioten zeigen zu können. «Trotzdem die Verwundeten ohne Ausnahme (!) heitere (!!), oft fröhliche Gesichter zeigten», so heisst es in jenem Bericht, der mir vorliegt, «war der Anblick all dieses Jammers doch nur für sehr starke Nerven. Ich sah alte Offiziere, die Brust mit Ehrenzeichen geschmückt, sich verstohlen die feuchten Augen trocknen. Einem blutjungen österreichischen Reiter fehlten beide Beine und eine Hand.» Genug! Man stelle sich nur die Heimkehr dieses Reiters vor! Man versuche überhaupt, sich all die Tragik zu vergegenwärtigen, die dieser Krieg mit sich bringt und frage sich, ob diese Vergoldung, all dieser Trara angebracht seien. Und dann denke man darüber nach, ob angesichts all dieses Elends die Arbeit jener, die das Werk der Befreiung der Menschheit von diesem Elend betreiben, nicht das wichtigste auf Erden ist?