Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Locarno, 26. März.

Die große Offensive, die jetzt im Westen Europas wirklich wütet, nachdem man monatelang ihre Entfesslung besprach und erwartete, wird mit einem derartigen Reklameapparat umgeben, dass man einesteils über die Unwürdigkeit eines solchen Vorgehens empört ist, auf der anderen Seite die Vermutung nicht los wird, das es sich bei diesem furchtbar blutigen Ereignis um eine besondere Art Propaganda für die achte Kriegsanleihe handelt. In der deutschen Presse versündigen sich deutsche Dichter und deutsche Zeichner jetzt täglich am deutschen Volk, indem sie ihm durch Wort und Schrift in sentimentalster Art die Wonnen, den Nutzen und den patriotischen Paroxysmus der achten Kriegsanleihe geläufig machen (darüber wird es nach dem Krieg nötig sein, eine literarisch-kunsthistorische Darstellung der Kriegsanleihenpropaganda, verbunden mit wirtschaftspolitischen Glossen zu veröffentlichen), und die furchtbaren Geschehnisse der Zehnmillionenoffensive gegen die Kulturwelt werden ebenfalls zu diesem Zweck verwendet. Wie bei Jahrmarktsunternehmungen ist für einen «Clou» gesorgt. Dieser ist jene versteckte unheimliche Riesenmaschine, die auf einer Entfernung von 120 Kilometern Paris beschießt. Es ist wahr; damit hat niemand gerechnet. Hier hat der Militarismus wieder seine Genialität bewiesen. Die französische Hauptstadt, die sich noch soweit von der Kampffront entfernt gefühlt hat, daß sie sich vor einer Beschießung sicher wähnte, ist nun plötzlich der Front so nahe gerückt, dass sie in völliger Unvorbereitetheit die deutschen Riesengeschosse über sich ergehen lassen muss. Das ist der Eiffelturm des Kriegs, die Sensation der großen Frühjahrsoffensive von 1918. Die Beschießung durch Luftfahrzeuge ist doch etwas andres als die Beschießung vom Land aus. Das Luftbombardement ist zeitlich beschränkt. Die Piloten können sich nur eine bestimmte Zeit hindurch in der Luft halten. Sie müssen mit ihrem Benzinvorrat und mit den Abwehrflugzeugen rechnen. Aber solch eine Riesenkanone, die jenseits der Front in einem Wald versteckt sitzt, kann Tag und Nacht mit aller Gemütlichkeit ihr Werk vollbringen, ohne dass die Betroffenen etwas dagegen machen können. Und heute ist es eine solche Maschine, die in Zwischenräumen von 20 Minuten Paris erschreckt und zerstört. Morgen können es mehrere sein, und die Millionenhauptstadt Frankreichs, die nicht einmal Zeit hatte, das Groß ihrer Bevölkerung abzuschieben, sieht sich vor die Wahl gestellt, sich vernichten zu lassen oder sich zu ergeben.

Mir kommt plötzlich die Zeit meiner frühen Kindheit in Erinnerung, wo ich von den Schrecken der Beschießung von Paris die Erwachsenen sprechen hörte. Jene Gespräche und Vorlesungen aus den Zeitungen waren meine ersten Eindrücke vom Krieg.

Aber es ist nicht dieser Clou allein, der den Berichten über die Vorgänge etwas Reklamehaftes verleiht. Der Stil der offiziellen Berichte weicht von dem starren Ernst der früheren auffallend ab. So wird das Erreichen einer ersten Linie zu einer besondern Schlacht gestempelt, die man «gewonnen» habe, während man doch weiß, das es bei allen großen Offensiven gewisse Anfangserfolge mit Sicherheit gibt, die jedoch keinen Schluss auf das Endergebnis zulassen. Das tollste leisten aber die Privatkriegsberichterstatter der Zeitungen, die sich gegenseitig an Hurrastimmung, alle miteinander das Wolffsche Bureau darin zu übertreffen sich bemühen. Wo nur die Herren eigentlich standen? In ihren Berichten tun sie so, als ob sie mitten im Kampfgewühl als Augenzeuge fungieren würden. Da sich dies bei der heutigen Kriegführung nicht einmal denken lässt so ist anzunehmen, dass die Berichterstatter auf Grund des ihnen von den Militärbehörden vorgelegten Materials ihre Phantasie frei schweifen lassen in der Richtung, Stimmung um jeden Preis zu machen.

In den Berichten von Wolff spielt das berühmt gewordene Giftgas bereits eine große Rolle. Da heißt es:

«Die Gaswolken, die sich auf ihre Batterien senkten (der Engländer) tun ihre Schuldigkeit.»

Und weiter:

«Die Gräben sind voller Tote. In den Artilleriestellungen liegt die Bedienung vergast über den Geschützen.»

Es ist die furchtbarste Phase des Krieges, die sich jetzt abspielt. Den Jousqu’auboutisten auf beiden Seiten wird vor ihrer Gottähnlichkeit bange werden. Weshalb wird diese fürchterliche Schlacht geschlagen? Weshalb kam es nicht vorher zu einem Ende? Das Blutmeer, das hier vergossen wird, soll — nach deutscher Auffassung — dem Frieden dienen. Das erscheint mir aber als das Unwahrscheinlichste. Gelingt die Offensive, was bei der Stärke der deutschen Kräfte möglich ist, so bringt sie nicht den Frieden, sondern einen verlängerten, unerträglich erbitterten Kampf. Aber selbst wenn ich mich täusche, wenn der Vorstoß der Deutschen so furchtbar sein sollte, dass es ihnen möglich wäre, das Kriegsende zu erzwingen, der Friede der da herauskommen wird, wird niemals ein Friede sein. Gelingt aber die Offensive nicht, wird die Million Toter, die der Vorstoß auf beiden Seiten wohl kosten wird, umsonst geopfert sein, so sehe ich auch dann noch keinen Frieden. Armes Europa! Warum zerfleischt es sich? Ist es nicht der Verzweiflungskampf um ein Idol, um Elsaß-Lothringen? Und warum ist Deutschland auf die letzten Friedensvorschläge nicht eingegangen? Anscheinend weil die Kriegsmacher eingesehen haben, dass ein Kriegsende ohne Kriegsentschädigung doch eine Niederlage wäre. Die 124 Milliarden, die bis jetzt die deutsche Kriegsschuld ausmachen, beschatten die Zukunft. Und so wird das deutsche Volk zu einem neuen, zu dem furchtbarsten AderlaB gedrängt, um dem Phantom einer Rentabilität des Kriegs geopfert zu werden.

Der Reichstag hat in seiner Sitzung vom 22. März die neuen Kriegskredite von 15 Milliarden bewilligt. Nur die unabhängigen Sozialdemokraten haben dagegen gestimmt. In der selben Sitzung hat der Reichstag auch den Schwertfrieden des Ostens angenommen. Die Mehrheitssozialisten haben sich der Stimme enthalten, die Unabhängigen haben, «mit dem Gefühl der Schande erfüllt», wie der Abgeordnete Haase in seiner Rede sagte, jenen Frieden direkt abgelehnt. Die Mehrheitsparteien, mit Ausnahme der Sozialdemokraten, haben das Kunststück zuwege gebracht, die Friedensbedingungen des Ostens mit der Reichstagsresolution vom 19. Juli 1917, «keine Annexionen, keine Entschädigungen», in Einklang zu bringen. Gott verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Nach den Kurländern waren jetzt die Litauer in Berlin. Abgesandte einer winzigen Minderheit, und das Ergebnis ihres Besuches war, dass Deutschland Litauen als freien und unabhängigen Staat anerkannt hat, der aber «auf ewige Zeiten» mit Deutschland durch Verträge militärisch, wirtschaftlich und politisch verbunden sein soll. Diese ewige Verbindung war die Grundbedingung für die Anerkennung der Freiheit und Unabhängigkeit. Und da wagt es der Zentrumsabgeordnete Groeber in seiner Rede zum Ostfrieden zu behaupten «Vertrag fand ich keine einzige Bestimmung, die als Annexion ausgelegt werden könnte. » Mit solchen Auslegungen soll sich das deutsche Volk einverstanden erklären? Das sind Handlungen ältester Intrigantendiplomatie, die heute unerträglich erscheint, und die den Deutschen in der ganzen übrigen Well das Vertrauen rauben, das einige Freunde Deutschlands sich noch bewahrt hatten. Mit einer solchen Mentalität behaftet, wird das deutsche Volk niemals zum Frieden kommen. Niemals!

Es ist, als ob in Deutschland das Gefühl für Wahrheit völlig abhanden gekommen wäre, dass das Wort des Redakteurs von der Berliner Morgenpost, «Wer jetzt nicht lügt, ist ein Schuft», mehr denn je Anwert besätze und zum Rückgrat der Politik gemacht würde.