Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Thun, 25. Juni.

Man bemüht sich in deutschen Zeitungen klar zu machen, dass man sich in Amerika über die «Lusitania»-Angelegenheit nicht mehr sehr aufrege. Das Leben mache seine Rechte geltend, und über andre Dinge hat man jene Toten längst vergessen. Der amerikanisch-deutsche Konflikt wäre daher nicht mehr so gefährlich. Was wird damit bestätigt?

Dass unsre Methode der dilatorischen Behandlung eines Konflikts die richtige ist. Die Ultimata mit Stundenbefristung, die mitten in die höchste Erregung hineinplatzen, sie bilden die Gefahr. Sobald ein Konflikt auf das Geleise der Diskussion geschoben wird, ist er zu 95 % seiner Gefährlichkeit für den Frieden entkleidet.

Im übrigen scheinen jedoch die Behauptungen über die in Amerika Platz gegriffene Gleichgiltigkeit übertrieben zu sein. Vielleicht wird der Konflikt ruhiger aufgefasst, aber seine Nachwirkung für das Deutschtum ist keineswegs überwunden. So schreibt mir heute Dr. J. M. unterm 12. Juni aus New-York: «Die Erregung (über den «Lusitania»- Fall) ist noch furchtbar stark. Leute mit deutsch-klingendem Namen finden direkt keine Beschäftigung oder Stellung mehr. Das wird Jahrzehnte dauern, bis der moralische Schaden wieder gut gemacht ist». Ich denke nicht so pessimistisch, dass es Jahrzehnte so bleiben werde, aber dieser Zustand des Welthasses, der sich zum Weltboykott entwickeln kann, wird schwere Arbeit verursachen. Und der Pazifismus allein wird berufen sein, sie zu leisten. Das mögen sich doch die Antipazifisten, die trotz des Burgfriedens mit ihrem Spott und ihren Angriffen nicht zurückhalten, in Erinnerung halten. Man wird uns brauchen!

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Die kürzlich in Gefängnissen internierten englischen Offiziere sind freigegeben worden, weil die englische Regierung die Sonderbehandlung der gefangenen Unterseebootsmannschaften und Offiziere eingestellt hat. Die «Weser-Zeitung» die dies (17. Juni) feststellt, weist dabei auf meine Ausführungen vom 15. April in meinem Kriegstagebuch hin. Sie meint, wie falsch es gewesen wäre, wenn in meinem Sinn gehandelt worden wäre, wonach man das von den Engländern begangene Unrecht nicht durch ein andres von uns begangenes hätte übertrumpfen sollen. Meine Ansicht wäre irrig gewesen, meint das Blatt, die deutschen Unterseebootsmannschaften schmachteten heute noch in englischen Arresten. «Leuten wie Briten kann man niemals mit Moral, sondern nur mit Macht imponieren». Angenommen, dass dies richtig wäre, so hätte ja auch die Andeutung der Macht genügt, um den gleichen Erfolg zu erzielen. Es ist aber nicht richtig! Die «Weser-Zeitung» vergisst hinzuzufügen, dass sowohl im englischen Parlament wie in der englischen Presse Stimmen laut wurden, die das Vorgehen der englischen Regierung verurteilten und Widerruf jener Verordnung forderten. Dabei hätte die «Weser-Zeitung» eine solche englische Preßstimme gleich bei der von ihr zitierten Stelle meines Kriegstagebuches in deutscher Übersetzung abgedruckt finden können.

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Die Einnahme von Lemberg gab in Österreich wie in Deutschland Anlass zu grossen Kundgebungen, namentlich soll Wien festlich beflaggt gewesen sein und grosse Menschenansammlungen sollen vor dem Kriegsministerium und dem Schönbrunner Schloss stattgefunden haben. Die Freude ist begreiflich. Sie würde reiner sein, wenn man die offiziellen Übertreibungen unterlassen hätte. Es ist doch nur eine Wiedergewinnung, kein Gewinn. Es ist doch nur eine unter ungeheuren Opfern erzielte Errungenschaft, die ohne Krieg nicht nötig gewesen wäre. Rührend ist die Nachricht von der Demonstration der jüdischen Flüchtlinge aus Galizien vor dem Wiener Kriegsministerium.