Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. November.

Die deutsche Regierung hält die Waffenstillstandsbedingungen für technisch unerfüllbar und sendet eine Protestnote nach der andern an die Entente. Deren Heerführer lehnen jedes Entgegenkommen ab und lassen die deutschen Hilferufe durch ihre Presse als hinterlistige Manöver bezeichnen. Die Regierung der deutschen Republik verlangt Verlängerung der Räumungsfrist, um die Auflösung der zurückflutenden Armeen zu verhindern, die völlige Anarchie mit Plünderung und Mord ins Land tragen können. Sie verlangt Herabsetzung oder Stundung des auszuliefernden Transportmaterials, um den Rücktransport der Truppen wie der Gefangenen durchführen zu können und die notwendige Verteilung der Lebensmittel nicht unterbrechen zu müssen. Die Ententeführer bestehen auf ihrem Schein. Die Folgen dieser Weigerung können für das geschlagene Deutschland unausdenkbar werden. Das Vorgehen der Entente entbehrt jeder Größe, jeder Menschlichkeit. Aber man kann ihr dennoch keinen Vorwurf machen. Sie hat jene Präzedenzfälle für sich, die die deutschen Militärs in Brest-Litowsk und Bukarest geschaffen, und jene Drohungen, die diese vorzeitig für die Friedensschlüsse im Westen äußerten. Sie hat für sich die furchtbaren Pressionen, die die deutschen Militärs in langen Jahren in den besetzten Gebieten ausgeübt haben. Die Deutschen haben in ihrer Not das Recht zu protestieren, dass sie aber von Attentaten gegen die Zivilisation sprechen, ziemt ihnen nicht. Solche Entrüstungsschreie sind sogar ein arger Fehler, denn sie rufen zu Vergleichen heraus, die die Hartnäckigkeit der Gegner nur verstärken müssen. Es ist klar, dass sich Deutschland in einer argen Gefahr befindet, aus der es nur Großmut retten könnte. Aber welcher Tor wird Großmut von siegreichen Militärs erwarten?

Endlich! Was wir seit Beginn der Revolution mit Spannung erwarteten, Aufklärung über den Kriegsbeginn aus den Geheimakten der deutschen und österreichischen Diplomatie, beginnt sich jetzt zu erfüllen. Die bayrische Regierung veröffentlicht Mitteilungen aus den Berichten der Berliner bayrischen Gesandtschaft aus der Kriegszeit im Sommer 1914. Gesandtschaftsberichte, die für das alte Regime vernichtender sein werden, als die berühmten Mitteilungen aus den belgischen Archiven für die belgische Regierung es waren. Danach hat man in Berlin am 18. Juli genau gewusst, was das Ultimatum an Serbien enthalten werde, während man doch so oft behauptet hat, dass man von diesem Schritt überrascht worden sei. Das wird zynisch genug ausgedrückt:

«Die Reichsleitung werde mit dem Hinweis darauf, dass der Kaiser auf einer Nordlandreise und der Chef des Großen Generalstabs sowie der preußische Kriegsminister in Urlaub seien, behaupten, sie sei durch die Aktion Österreichs genau so überrascht worden wie die anderen Mächte.»

Auch in Wien gab man sich «durch die gleichzeitige Beurlaubung des Kriegsministers und des Chefs des Generalstabs den Anschein friedlicher Gesinnung» und wählte in abgefeimter Taktik jenen Augenblick zur Überreichung des Ultimatums an Serbien, in dem Poincaré und Viviani in Petersburg das Schiff zur Heimreise bestiegen haben. Endlich verfliegt der Schwindel mit dem Suchomlinowprozess, und es wird auch den Gutgläubigsten klar, dass die Vorgänge in Petersburg erst eine Folge des in Berlin und Wien eingefädelten Konflikts waren.

Der bayrische Gesandtschaftsbericht versteigt sich zu dem Bekenntnis, dass Grey sich redlich um die Erhaltung des Friedens bemühte, gibt aber gleich den Trost nach München mit, dass diese Bemühungen «den Gang der Dinge nicht aufhalten werden». Und diese Berichte gingen an Hertling, der als Reichskanzler uns unzählige Mal die Mär vom «ruchlosen Überfall» vortrug, ohne mit der Wimper zu zucken.

Alle, die während des Kriegs die Schuld Deutschlands behaupteten, wurden von traurigen Soldschreibern, von den Staatsmännern, Politikern, Professoren, Journalisten als Hochverräter und Verleumder gebrandmarkt. Dieses Gelichter steht jetzt erbärmlich da in der grellen Beleuchtung des Tageslichts. Es ist ein Glück, dass die Verbrecher von 1914 den Krieg nicht gewonnen haben, sonst hätten sie ihre Lügen dauernd verbergen können. Die Niederlage ist bitter für das deutsche Volk, dass es aber die Wahrheit erfahren darf, lässt es die Schwere seines Schicksals leichter ertragen. Das arme blutende Volk weiß nun, wo die Mörder seiner Söhne sitzen.