Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 7. April.

Gestern Abend aus Basel zurück, wo ich vorgestern einen Vortrag hielt. Vollgefüllter grosser Saal; wohl fünf oder sechshundert Personen. Ich wohnte in dem berühmten Hotel «Drei Könige», das dicht am Rhein liegt. Von meinem Fenster aus sah ich die Berge des Schwarzwalds liegen. Dem Weltdrama in nächster Nähe. Doch hörte man den sonst so stark wahrnehmbaren Kanonendonner diesmal nicht. In dem Hotel «Drei Könige» fand im Mai 1914 die zweite Verständigungsvereinigung deutscher und französischer Parlamentarier statt. Jaurès und Frank, diese beiden ersten Opfer des deutsch-französischen Kriegs, wohnten dort. Wehmütige Erinnerungen, denen ich mich hingab. Während meines Aufenthaltes erreichte mich eine Depesche meines Leipziger Vertreters, dass die «Friedens-Warte», Jahrgang 1916, vom Generalkommando für Deutschland verboten wurde. Also doch! Längst gefürchtet. Mundtot! — So hat denn die Denunziation der «Kreuzzeitung» guten Erfolg gehabt. Ich tröste mich mit der Erkenntnis, dass noch niemals durch Verbot von Druckerzeugnissen die Verbreitung einer Idee gehemmt werden konnte.

In Basel Professor Stefan Bauer in seinem internationalen Arbeitsamt besucht. Merkwürdig. Auch dieses internationale Amt setzt unbeirrt und unbehindert seine Arbeit fort. Die kriegführenden Staaten senden ihre Geldbeträge und wirken mit an der Arbeit, die durch den Krieg nicht geringer wurde.

Die Reichskanzler-Rede! Wieder um eine Hoffnung ärmer. Das Wort, das zum unmittelbaren Frieden führen könnte, fehlte. Hingegen ziemlich klare Andeutungen über Annexionen im Osten, undeutliche über Belgien. Wiederum die Betonung: «Wir wollten den Krieg nicht». Wieder Abwälzung der vollen Schuld auf die andern. Wenn Deutschland den Krieg nicht wollte, dann hätte es mehr Arbeit für dessen Verhütung einsetzen müssen als in den Fristen von 24 und 12 Stunden möglich war. Die lange Dauer eines europäischen Ringens musste vorausgesehen werden, und da hätte eine Fristverlängerung von acht oder vierzehn Tagen alles retten, all das Grauenhafte verhindern können. Wenn Deutschland gar kein anderer Vorwurf zu machen wäre, wie der der Überstürzung unter dem Einfluss der Militärs, die das Raschheitsmoment glaubten nicht entbehren zu können, so würde das genügen, den Beweis der Unschuld als nicht erbracht zu sehen. Und wenn die Behauptung des Reichskanzlers, dass man den Krieg «nicht gewollt», wirklich wahr ist, dann muss man ob der Unfähigkeit jammern, die einen solchen Willen nicht durchzusetzen verstand. Kein Volk in Europa wollte diesen Krieg.

Nur in einem Satz der Kanzlerrede liegt etwas wie Hoffnung darin:

«Das Europa, das aus dieser ungeheuren Krise entstehen wird, wird in vielen Stücken dem alten nicht gleichen. Das geflossene Blut kommt nie zurück. Das vertane Gut kommt nur langsam zurück. Wie es auch sein wird, es muss für alle Völker, die es bewohnen, ein Europa friedlicher Arbeit werden. Der Friede, der diesen Krieg beenden soll, muss von Dauer sein, nicht den Keim neuer Kriege, sondern der endgültigen friedlichen Ordnung der europäischen Dinge in sich tragen».

Das ist ja das, was wir auch sagen. Das könnte, wenn es ehrlich gemeint ist, den Krieg beendigen. Denn ein Friede, der nicht den Keim neuer Kriege in sich tragen soll, darf nicht der aufgezwungene Friede eines Siegers sein, darf kein Volk verletzen, keinen Anlass zu Racheplänen geben, und eine Organisation einsetzen, die einem jeden Sicherheit bietet und solche Vorteile, dass die damit verbundenen Einschränkungen reichlich aufgewogen werden. Ein solcher Friede darf nicht allein auf den Rüstungen beruhen, sondern muss ein Ebenmass der Rüstungen herbeiführen. Das wäre die «endgültige friedliche Ordnung der europäischen Dinge». Meinte das der Reichkanzler, verstanden ihn jene so, die diesen Worten ihr «Bravo» zuriefen? Wenn ja, dann könnten wir morgen Frieden haben.

Vielleicht liegt auch in jenen Teilen der Rede etwas Hoffnungen Erweckendes, wo der Reichskanzler sich an «die Adresse Asquith» wendet. Der Reichskanzler meint, Asquith verlange die vollständige Zerstörung der militärischen Macht Preussens. Und er fügt hinzu: «Gesetzt der Fall, ich schlüge Asquith vor, mit mir die Friedensmöglichkeiten zu prüfen und Asquith begänne mit seiner endgültigen und vollständigen Zerstörung der militärischen Macht Preussens, dann wäre das Gespräch beendigt, noch bevor es angefangen».

Das sollte doch der Reichskanzler nur einmal probieren. Es ist ja beinahe sicher, dass Asquith mit dieser Forderung nicht käme. Täte er eine solche Dummheit, würde der Orkan der Empörung gegen ihn im englischen Volk nicht geringer sein als im deutschen. Das Wagnis wäre nicht gross, denn im ungünstigen Fall würde der furor teutonicus derart aufbrausen, dass er die Gegner zu Tode erschrecken würde, und im günstigen Fall hätten wir morgen Waffenstillstand und übermorgen Frieden. Es ist ja klar, dass Asquith gar nicht an das denkt, was der Kanzler ihm zuschreibt. Kein Mensch in Europa will eine «vollständige Zerstörung der militärischen Macht Deutschlands». Wenn im Kriegsjargon davon gesprochen wird, meint man immer nur eine Schwächung jener militärischen Einflüsse auf die Politik, die die Unsicherheit Europas erzeugten, und wenn man bei den Gegnern dabei immer nur von diesen Erscheinungen in Deutschland spricht und nicht von den eigenen, so geschieht das nur, weil man während des Kriegs eine solche Selbstkritik nicht für opportun hält. Im Grunde wird mit solchen Redensarten nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als der Wunsch, dass der künftige Friede nirgends mehr auf Schwerterspitzen begründet werde, sondern durch die gleichmässige Mitwirkung aller auf einer breiten, gegen militärische Einflüsse nach allen Seiten geschützte Grundlage errichtet werden soll.

Das würde sich am ersten Tage ergeben, nachdem der Reichskanzler an Asquith jene erlösende Frage richten würde, ob er geneigt sei, mit ihm die Friedensmöglichkeiten zu prüfen.