Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 11. Mai.

Heute ist der Waffenstillstand ein halbes Jahr alt. Und wo stehen wir? Die Vernichtung ging rascher vor sich als die Wiederherstellung. Ein halbes Jahr, ausgefüllt mit Beratungen, und dann dieses Ergebnis! Es wird noch manches halbe Jahr durch die Welt gehen, und der Zustand von 1914 wird nicht mehr erreicht werden. Ruiniert! Ruiniert! Immer wieder kommt einem Fausts Geisterchor ins Gedächtnis: «Weh! Weh! Du hast sie zerstört, die schöne Welt . . .»

In dem Entsetzen vor der Friedenszumutung, die uns unter dem Patronat Wilsons gemacht wird, kommen wir ab von den Schuldigen. Niemals ihrer vergessen, die uns dahin gebracht! Vergesst diese romantischen Idioten nicht, die ihren mittelalterlichen Spuk im hellen Licht des Maschinenzeitalters trieben, ein Millionenvolk mit ihrem geistigen Alkohol berauschten und es so in den Abgrund stießen, den es in seiner Bewusstlosigkeit nicht sehen konnte. Wahrhaftig, das Alldeutschtum und die Militärromantiker, wie sie gemeinsam das deutsche Volk betörten, das gibt einen hübschen Vorwurf für ein Totentanzbild. Vergessen wir sie nicht, die Heilsprediger des scharf geschliffenen Schwertes, des trocken gehaltenen Pulvers, die der Wahnidee nachliefen: Ein Volk könne stärker sein, als alle anderen zusammen. Sie haben uns nicht geglaubt, als wir ihnen zuriefen, dass es mit dem Anhäufen von Gewaltmitteln allein nicht gehe, dass man auch das neue Mittel der Organisation, des Ausgleichs, der Verständigung in die Rüstung mit aufnehmen müsse, sonst schließt man sich aus aus der sich organisierenden Welt und presst die anderen nur um so enger zusammen. Unseren Worten hat man nicht geglaubt. Der Hufeisentisch im Saal des Trianon-Hotels in Versailles mit den Delegierten der zweiundzwanzig Siegerstaaten bildetejenen Anschauungsunterricht, den wir dem deutschen Volk gern erspart hätten.