Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 14. September.

Die Stimmung in Deutschland ist nicht mehr zuversichtlich. Aus verschiedenen Äußerungen könnte man annehmen, dass Panik herrscht. Zeitungsartikel und Reden lassen das erkennen. Beruhigen ist jetzt die Parole. Man spricht nicht mehr von Sieg, sondern von der Verteidigung, von der eigenen Unbesiegbarkeit. Eine solche auf Beruhigung gestimmte Äußerung eines deutschen Frontoffiziers in der Kölnischen Zeitung (abgedruckt «Basler Nachrichten», 13. September) enthält den vielsagenden Satz:

«Gewiss, unsere Lage ist ernst, so furchtbar ernst, wie sie in der mehrtausendjährigen Geschichte unseres Volkes noch nie gewesen ist; das wissen wir, und darüber sollen wir uns gar keinen Zweifeln hingeben.»

Dass solche Äußerungen beruhigen können, wird man nicht glauben. Dass man sie drucken darf, zeigt wie ernst und gedrückt die Stimmung im deutschen Volk ist. Man sieht ein, dass die Täuschungen keinen Zweck mehr haben, und so hofft man, durch die unverblümte Wahrheit zu wirken, die Widerstandskraft und den furor teutonicus anzufeuern. Es soll dem Volk klargemacht werden: Es geht ums Ganze, um die Existenz, um die Zukunft. Das ist natürlich auch nur eine Täuschung. Ein ehrlicher Bruch mit dem für die Welt so gefährlichen Regierungs-system, eine Abkehr von den Götzen der Marktpolitik, von der Autokratie — und morgen hat das deutsche Volk den Frieden.

Aber dieser Wahrheit verschließen sich die Regierenden noch immer. Es scheint, dass es noch ärger kommen müsse, bis sie sie erkennen und ihre Schlüsse daraus ziehen werden.

Zwei Reden, die dieser Tage gehalten wurden, erleichtern nicht die Lage.

Kaiser Wilhelm sprach feierlich zu den Arbeitern von Krupp, die er als die Vertreter der gesamten deutschen Arbeiterschaft und des gesamten deutschen Volkes anredete. Er beschwor sie, Gerüchten nicht Glauben zu schenken, den Glauben an die Zukunft des Vaterlandes nicht zu verlieren. Er erinnerte sie an das Trußlied «Eine feste Burg ist unser Gott» und sagte: «Ein Volk, aus dem dieses Lied entstanden ist. das muss unbezwingbar sein.»

Es ist die merkwürdigste Rede, die Kaiser Wilhelm je gehalten. Sie ist bezeichnend für seine Stimmung wie für die Stimmung im Volk. Man merkt, dass der Kaiser, der eine religiöse Natur ist, sich religiösem Transzedentalismus ergeben hat und darin Trost und

Rettung sucht. Das ist eine bei einem Privatmann ganz ruhig hinzunehmende Wendung, als politische Aktion aber unerträglich. Die aus solcher Betstuhlphilosophie herrührenden Schlüsse und Ansichten schlagen dem Zeitgeist ins Gesicht und bezeugen deutlich, dass es mit dieser Priesterpolitik nicht weitergehen kann. Damit kann sich ein reifes, ein so schwer geprüftes Volk nicht mehr abfinden. Das gehört nicht mehr in unsere Zeit hinein. Dieser liebenswürdige Familienvaterstandpunkt, dieses Sorgenwollen für 70 Millionen, diese Vergesellschaftung mit Gott sind Anachronismen, die nicht zulebt die Ursache dieses Kriegs und seiner Endlosigkeit erkennen lassen.

Die andere Rede ist die des demokratischen Vizekanzlers von Payer, die eine entsetzliche Enttäuschung bereitet. Die Erklärung, dass sich Deutschland in die mit Russland, Rumänien und der Ukraine geschlossenen Friedensverträge nicht werde drein reden lassen, das also der Ostfriede mit seinem Vergewaltigungsprinzip, mit seiner alle Völkerorganisation zerstörenden Tendenz als Tatsache von der übrigen Welt anzuerkennen und zu schlucken ist, wird das Kriegsende nicht näherbringen. Noch weniger jene von Payers Äußerungen über den Völkerbund, die so sehr an den Kern des Problems vorbeifahren. Was soll die Behauptung, der Gedanke des Völkerbundes ist den Deutschen schon seit Zeiten geläufig, in denen Frankreich und England an nichts andres dachten als an die unverhüllte Unterjochung fremder Völker. Was soll die Behauptung, «Schiedsgerichte sind für uns nichts Neues». — Diese lose Schiedsgerichtsbarkeit für Fünfzigpfennig-Konflikte, diese Sonntagnachmittag-Völkergerechtigkeit, um die handelt es sich jetzt wahrlich nicht mehr. Bemerkungen solcher Art zeugen nur davon, dass die führenden Persönlichkeiten in Deutschland noch nicht ahnen, was die Welt braucht, was die Weil jetzt will. Nur bei solcher Ahnungslosigkeit lässt sich die Aufrechterhaltung des Säbelfriedens von Brest und Bukarest mit einer den Krieg ausschließend Völkervereinigung in Einklang bringen. Das wäre ein Völkerbund, dem auch General Hoffmann liebenswürdig zustimmen würde.

Alles Berufen auf die Sympathien Deutschlands für Völkerbund und Schiedsgericht in der Vergangenheit ist — zumindest Täuschung. Nirgends, in keinem Land, wurden diese Ideen so sehr als Humbug angesehen wie in Deutschland. Verhöhnt, verlacht, boykottiert wurden die wenigen Mahner, die für die Erfassung des pazifistischen Gedankens dort kämpften. Es geht nicht an, dass man der Welt dies mit dieser Handbewegung vergessen machen will.

Die Rede von Payers wird uns das Kriegsende, sie wird uns den Völkerbund mit dem gesicherten Frieden nicht bringen.