Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 17. Mai.

In der Budgetkommission des Deutschen Reichstags erklärte der Staatssekretär des Innern am 14., dass das Brotgetreide für das laufende Jahr nicht nur gesichert sei, sondern eine grössere Reserve ergebe als angenommen wurde, die gegen jede unvorhergesehene Eventualität schütze. Auch die Kartoffelvorräte sind über Bedarf gross.

Wozu also der Lärm mit der englischen Aushungerungspolitik, wenn diese ein Versuch mit untauglichen Mitteln war. Wir können gar nicht ausgehungert werden. Der sentimentale Hinweis auf das unsern Frauen und Kindern zugedachte Schicksal kann daher unterbleiben. Er war nie logisch. Wenn die Engländer Deutschland die Zufuhr abschneiden, wollten sie nicht die Frauen und Kinder dem Hunger preisgeben. Sie rechneten vielmehr wie mit einer Tatsache, dass man es zum Verhungern nicht werde kommen lassen. Ihre Aktion gipfelte nicht in dem Hungertode Unschuldiger, sondern gerade in den zu dessen Vermeidung notwendigen Massnahmen. Freilich war das ein Zwang. Aber Krieg ist ja Zwang. Das soll keine Entschuldigung des englischen Vorgehens sein, sondern nur eine Klarstellung des Vorgangs.

Bei den Erörterungen über die italienische Krise schreibt Theodor Wolff im «Berliner Tageblatt» (14. Mai) über eine Erklärung Sonninos, wonach die österreichischen Zugeständnisse zu lange auf sich haben warten lassen und es jetzt «zu spät» sei, folgenden wichtigen Satz: «Darf ein Staatsmann sich auf ein ,zu spät’ berufen, und kann es ein ,zu spät’ geben, wenn das Schicksal vieler Tausender von Volksgenossen und das Gesamtschicksal des Volks auf dem Spiel stehen?»

Schade, dass dieser Satz erst am 14. Mai 1915 gedruckt werden durfte und nicht schon vor dem 28. Juli 1914, wo Graf Berchtoldt dieses verhängnisvolle Wort «zu spät» (Rotbuch Nr. 38 und 41) aussprach. Auch ein andrer Satz jenes Artikels richtet sich nicht bloss an die Adresse Italiens: «Man weiss, dass es überall nur tatkräftige Minoritäten waren, die den Krieg gewollt und herbeigeführt haben, und denen die Welt heute die ungeheuerste Tragödie verdankt».

Mittlerweile haben sich die Aussichten bezüglich Italiens wieder verdunkelt. Heute wird die Welt durch die Mitteilung überrascht, dass der König die Demission Salandras nicht annimmt. Dieses Ministerium, das dem Krieg offen und gerade zusteuert, bleibt. Es wird am 20. vor die Kammer treten. Soll es wirklich Ernst werden? Es ist fürchterlich, welchen Umfang dieses Blutbad noch annehmen kann.