Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 16. Mai.

Ein Artikel meines Freundes Richart Charmatz «Der preussische Militarismus» betitelt, kam mir heute zur Hand. Er steht in der Grazer «Tagespost» vom 7. Mai. «Die schale Redensart vom preussischen ,Militarismus’ will nicht ausser Gebrauch kommen; immer wieder und wieder klingt sie ins Ohr und berauscht jene, für die sie bestimmt ist». So jammert mein Freund. Er spricht von «Phrase», von «verspritzter Tinte» und von der «Lungenkraft», die auf deutscher Seite verausgabt worden, «um die bewusst oder verblendet Irrenden von ihrem Irrtum zu befreien». Und er fühlt sich veranlasst, auch etwas Tinte zu verspritzen, um die Irrenden zu bessern und zu bekehren, ihnen klar zu machen, «welche Persönlichkeiten denn am hervorragendsten an dem grossen Werk mitgearbeitet haben, das die deutsche Armee heute darstellt». —

Also in Wien und Graz glaubt man noch immer, dass die Gegner Deutschlands unter deutschem Militarismus die deutsche Armee verstehen. In jenen gesegneten Gefilden weiss man noch immer nicht, dass Militarismus mit der Wehrkraft eines Landes gar nichts zu tun hat, dass es nicht das Heer ist, das man bekämpft, wenn man den Militarismus bekämpft, sondern jene Geistesrichtung der Politik, die nur von militärischen Gesichtspunkten geleitet ist, die die rohe Gewalt als das Ausschlaggebende in den zwischenstaatlichen Beziehungen als das beste, ja als das einzige Hilfsmittel betrachtet, und sich hohnlächelnd über Recht und Organisation im Staatenverkehr hinwegsetzt.

Und so bemüht sich Richard Charmatz seinen gewiss recht gläubigen Grazer Lesern klar zu machen, dass Scharnhorst ein tiefer Denker und Bücherfreund, Gneisenau ein Demokrat, Boyen ein Verehrer Kants war, und dass Moltke gemütvolle Briefe an seine Braut und Gattin schrieb. Und damit glaubt er nun den Beweis erbracht zu haben, dass der Kampf gegen den Militarismus eine Frivolität sei.

Und gerade heute wird die Unterredung veröffentlicht, die Sir Edward Grey einem amerikanischen Journalisten gewährte. Darin wird von dem englischen Premier auch die Frage beantwortet, was er unter «Zerstörung des preussischen Militarismus» verstehe. Der Gefragte antwortete darauf:

«Preussens Ziel ist, wenn wir es recht verstehen, die Erkämpfung der Suprematie; es erstrebt ein nach seiner Auffassung gefügtes und von ihm beherrschtes Europa. Es will über unsere und die Freiheit seiner Nachbarn verfügen. Wir aber sagen, dass ein Leben unter solchen Bedingungen unerträglich wäre. Frankreich, Italien und Russland sagen das selbe. Aber wir bekämpfen nicht bloss dieses Bestreben Preussens, ganz Europa zu behandeln, wie es das nichtpreussische Deutschland behandelt hat, sondern wir bekämpfen auch jenen deutschen Gedanken, welcher den periodisch wiederkehrenden Krieg für eine Wohltat, ja sogar für etwas Wünschenswertes erklärt. Unter Bismarck hat Preussen drei wohlüberlegte Kriege herbeigeführt. Wir aber wollen einen für Europa sichern Frieden, der alle gegen einen Angriffskrieg schützt. Die deutsche Philosophie lehrt, dass ein wohlbegründeter Friede für den menschlichen Charakter Zersetzung, Entartung und Verlust seiner heroischen Tugenden bedeute. Setzt sich eine solche Denkweise mit den Mitteln der Gewalt in die Praxis um, dann bedeutet das eine ewige Beunruhigung, ohne Ende wachsende Rüstungen, die Verhinderung des Fortschritts der Menschheit auf dem Gebiet der Zivilisation und der Humanität. Deshalb bekämpfen wir diese Philosophie. Wir glauben nicht, dass der Krieg die beste Methode zur Regelung von Streitfällen unter den Nationen sei; wir glauben, dass es bessere Mittel gibt, die immer zum guten Ende führen, wenn die Parteien guten Willens und nicht vom Geist des Angriffs beherrscht sind. Wir glauben an den Wert der diplomatischen Verhandlungen, der internationalen Konferenzen. Wir haben eine solche Konferenz vorgeschlagen, bevor dieser Krieg losbrach. Deutschland hat unser Anerbieten ausgeschlagen. Als ich Deutschland bat, es möge irgendwelche Form der Vermittlung wählen, nach seinem Wunsch die Methode bestimmen, um zu einer friedlichen Regelung der Angelegenheit zu gelangen, da hat es keinerlei derartigen Vorschlag gemacht. Später hat der Kaiser von Russland vorgeschlagen, den Streit dem Haager Schiedsgericht vorzulegen; er hat keine Antwort erhalten. Die Ereignisse haben uns gelehrt, um wieviel wertvoller die Methode der internationalen Verhandlungen als die des Kriegs ist. Nun sind Handel und Industrie desorganisiert, die Lebenshaltung ist erschwert, Millionen von Männer sind hingeschlachtet worden, der internationale Hass hat sich gesteigert, die Zivilisation ist niedergetreten worden. Der Vorschlag des Zars, die Angelegenheit vor das Haager Schiedsgericht zu verweisen, hätte (nehme ich an) die Sache innerhalb acht Tagen aus der Welt geschafft und alle die Katastrophen wären vermieden worden. Ausserdem wäre ein gutes Stück Arbeit für die Fundierung eines dauernden internationalen Friedens geleistet worden».

Natürlich; das sagt der Diplomat der feindlichen Macht, und die deutsche Presse wird kein gutes Haar an ihm lassen und jedes seiner Worte als unwahr und heuchlerisch verdrehen. Und doch! Jener feindliche Diplomat spricht nur das aus, was Deutschlands beste Freunde, die Pazifisten des eigenen Landes, so oft ausgesprochen und gefordert haben; Wandel der mittelalterlichen Anschauungen über die Vorzüge und Wohltaten des Kriegs, Errichtung einer internationalen Organisation zur Vermeidung und Schlichtung zwischenstaatlicher Konflikte, Ausgleich statt Krieg, Recht statt Gewalt.

Es ist zum Jammern, dass es nun gerade wieder ein feindlicher Diplomat ist, der hier und in den weitern Sätzen als Kampf- und Friedensprogramm der von ihm vertretenen Gruppe das Programm des Pazifismus entwickelt, dem sich das regierende Deutschland vor dem Krieg so taub und ablehnend gegenüber verhielt. Herr Oskar Blumenthal und seine lächelnden Leser mögen aus jenen Äusserungen erkennen, wie richtig meine Behauptung ist, dass dieser Krieg letzten Endes um nichts anderes geführt wird, als um die Geltung und Anerkennung jener Ideen, die jener Haager Schiedspalast symbolisiert, dessen feierliche Einweihung als so ungeheuerlicher Anachronismus erschien.

Zum Schluss sagte Grey:

«Wenn die Menschheit nach diesem Krieg nicht gelernt hat, künftige Kriege zu vermeiden, dann war der Kampf umsonst. Über die Menschheit wird dann die stete Sorge der Vernichtung schweben ... Wenn sich die Menschheit nicht gegen den Krieg organisieren kann, dann wird die Wissenschaft anstatt die Dienerin der Menschheit deren Vernichterin werden».

So denke auch ich. Dieser Krieg muss die Menschheit zur Besinnung bringen, dass Kriege für keinen Teil mehr Vorteile bringen, und dieses Mittel der staatlichen Auseinandersetzung für unsere Zeit ein untaugliches geworden ist. Es ist die harte Lehre, die dieser Krieg bringt, und der sich auch Deutschland nicht verschliessen wird. Grey spricht am Schluss seiner Ausführungen, «dass dieser Krieg so lange nicht endigen kann, als die deutschen Herrschaftsgedanken nicht geschlagen sind und sich für besiegt erklären». Diese Forderung sieht so aus, als müsste der Krieg noch ins Unendliche fortgesetzt werden. Bei Licht besehen, lassen sich doch Hoffnungen an ein früheres Ende daran knüpfen. Grey spricht nicht von einem Sieg über Deutschland, sondern von einem Sieg über Ideen, «über die deutschen Herrschaftsgedanken». Von massgebender Stelle wird es aber seit jeher bestritten, dass Deutschland solche Gedanken gehegt habe. Wenn Deutschland noch immer Garantien für seinen eigenen Frieden, durch Bollwerke und Verrammelung seiner Einfallstore verlangt, so geschieht das von dem Gesichtspunkt der zwischenstaatlichen Anarchie, an deren mögliche Beseitigung man in Deutschland noch immer nicht glaubt. Wenn es den Gegnern gelänge, Deutschland zu überzeugen, dass die von ihnen erstrebte zwischenstaatliche Organisation auch dem Reich die erwünschte Sicherheit gewähren würde, so läge wahrlich kein Anlass vor, Europa weiter zu einem Schindanger umzugestalten. Greys Rede klingt vielleicht schroff und abweisend, aber das bringt die Kriegsart so mit sich, nach der die Diplomaten die Höflichkeiten abgelegt haben und in Hemdärmeln sich zu bewegen, sich für berechtigt halten. Man darf auf den Ton nicht zuviel Gewicht legen. Der Inhalt aber gibt Anlass nachzudenken, und vollends die Tatsache, dass dieser Staatsmann überhaupt, und dass er jetzt gesprochen hat. Vielleicht antwortet man ihm in einer dem Gedankengang seiner Ausführungen nahekommenden Weise, und vielleicht entwickelt sich so aus Rede und Gegenrede das Ende des Kriegs, der wirkliche Friedenszustand, das neue Europa.