Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

1. Oktober 1914.

So treten wir denn in das Winterhalbjahr, in das letzte Viertel dieses traurig denkwürdigen Jahres. Wie anders, anders haben wir uns diesen Abschluss des Sommers vorgestellt. Hell strahlt die Herbstsonne über der Landschaft, die ein wolkenloser blauer Himmel bedeckt. Als wollte es noch einmal zurückleuchten auf die erschütternden Erlebnisse der letzten zwei Monate und den Ausblick auf das Bevorstehende noch vergolden. Denn wie wir die Sache auch betrachten, wir stehen am Anfang und können das Ende noch nicht absehen. Darüber kann uns der herrlichste Sonnenschein nicht hinwegtäuschen.

Der Armeebefehl, der gestern veröffentlicht wurde, soll anscheinend nur ein bisschen die pessimistischen Gemüter etwas aufpulvern. Tatsachen meldet er nicht; er eröffnet nur Aussichten. Die Versuche der Russen, über die Karpathen zu kommen, sind zurückgewiesen worden. In Frankreich und Belgien tobt die Schlacht seit bald einem Monat weiter. Auf die Rechnung, die hier präsentiert werden wird, bin ich neugierig. Gegen Antwerpen und Verdun geht es jetzt mit dem schweren Geschütz vor.

Max Morold kündigt für morgen einen Vortrag in der Urania an über «Krieg und Kultur». Es gehört Mut dazu, jetzt wo alle Menschen unter dem Elend des Krieges leiden, dessen angebliche Vorzüge hervorkehren zu wollen. Ich sagte immer, die selben Vorteile, die der Krieg bringt, bringt auch die Cholera; überhaupt jedes Massenunglück. Gräfin Adrienne Pötting, die Malerin, meinte einmal, anspielend auf diese Methode der Kriegsrechtfertigung, — das beste Mittel gegen Hühneraugen sei Bauchfellentzündung. Sie litt nämlich einmal an Hühneraugen, bekam Bauchfellentzündung, die sie in Lebensgefahr brachte und sechs Monate ins Bett zwang. Als sie sich nach so langer Zeit wieder erhob, waren die Hühneraugen, die in der langen Zeit der Bettruhe nicht mehr gereizt wurden, verschwunden. Geradeso wie die Bauchfellentzündung ein Mittel gegen Hühneraugen ist, ist der Krieg ein Förderer der Kultur.

Roosevelt veröffentlicht im «Outlook» einen für Deutschland wenig sympathischen Artikel. Er schliesst aus dem Vorgehen Deutschlands gegen Belgien auf eine Gefährdung der Union. «Ich bewundere und achte das deutsche Volk,» heisst es da, «ich bin stolz auf das deutsche Blut in meinen Adern, aber man kann die Gefahr einer transatlantischen Anwendung alles dessen nicht aus dem Auge lassen, was ,Bernhardismus’ mit sich bringt». — Dieses Wort ist auf die Ansichten geprägt, die der General Friedrich v. Bernhardi in seinen Schriften vertreten hat, die im Auslande so eingehende Beachtung fanden. Wir werden daran erinnern müssen, wenn wir später daran gehen, zu ergründen, warum Deutschland in der Welt so wenig Sympathien vorfindet. Diese Erscheinung ist äusserst bedenklich und wichtig genug, eingehend klargestellt zu werden. Wenn die Lügen über Deutschland, seine Motive und Handlungen so williges Ohr in der ganzen Welt fanden, so war daran in erster Linie dieser Mangel an Liebe schuld, dessen sich Deutschland nicht zuletzt durch Schriften à la Bernhardi erfreute. Das oderint dum metuant passt doch nicht mehr in diese Welt der gegenseitigen Abhängigkeit und zwischenstaatlichen Organisation. Sympathie ist ein wägbares Kapital geworden.

Ich sehe die grosse Aufgabe der Pazifisten darin, nach dem Kriege diese Hasserscheinungen gegen Deutschland forträumen zu helfen. Sie allein werden es vermögen, für das deutsche Volk jene Sympathien wieder zu erringen, auf die es ein Recht hat. Das ist die grosse nationale und Kulturaufgabe, die unserer harrt.

Sanitätsrat Dr. Albert Moll in Berlin untersucht den Bericht der zur Untersuchung deutscher Grausamkeiten eingesetzten belgischen Kommission vom Standpunkt des Psychologen. Endlich der Psychologe, der den Krieg mit seinen Nebenerscheinungen ins Auge fasst. Er vermisst bei jenem Bericht eine Berücksichtigung der neuen «Aussageforschung». Um die Aussagen über deutsche Greuel voll zu verstehen, müsse man sich in die Psyche des belgischen Volkes hineinzuversetzen versuchen. Und zwar:

«Nach vielen Jahren des Friedens wird Belgien plötzlich zum Kriegsschauplatz. Es bricht über das Land der Krieg mit allen seinen Schrecken herein. Infolge des Mangels an Bildung — bekanntlich ist die Zahl der Analphabeten in Belgien erschreckend gross — wird das Volk besonders leicht von der Regierung und der Presse gegen die angeblichen Friedensbrecher, die Deutschen, aufgestachelt. Viele sehen die Schrecken des Krieges in der Nähe, zerschossene Häuser, hingerichtete Franktireurs; zahllose belgische Soldaten werden Opfer des Kriegs. Die Eltern beweinen die Söhne, die Geschwister die Brüder, die Frauen und Mädchen ihre Männer und Verlobten. Die Ereignisse überstürzen sich, nachdem das Volk Jahre, ja Jahrzehnte hindurch von seiner Regierung und der Presse dauernd über alles in Unkenntnis gelassen wurde. Alles dies muss berücksichtigt werden; es hat das Volk in einen Zustand versetzt, den man schliesslich nur als eine Massenpsychose bezeichnen kann.»

Ja, das ist ganz richtig. Aber nicht nur für die Irritierung der Aussagefähigkeit massgebend, sondern auch — und mir scheint in erster Linie — für die Verübung der Greueltaten selbst! Ich habe zu deren Erklärung (siehe die Eintragungen vom 18. August) fast dieselben Momente angeführt, die der Psychologe zur Erklärung der irritierten Aussagen vorbringt. Auch die Franktireurs handeln unter dem Einfluss der Massenpsychose. Darauf müssten die Gegenmassnahmen Rücksicht nehmen, indem sie mildernde Umstände zubilligen.

Der Psychologe, der uns die Erscheinungen des Kriegs erklärt, ist uns hochwillkommen. Nun soll aber einer vortreten, der sich mit der Psyche der Nichtkämpfenden befasst.

Der Pazifismus kann bereits eine Liste der Gefallenen, der gefallenen Gegenargumente, aufstellen. Gefallen ist endgültig der Satz von der den Frieden sichernden Wirkung der Rüstungen; gefallen das Dogma von der Humanisierung des Kriegs; gefallen die Phrase vom «frischen, fröhlichen Krieg». Das Lehrgebäude unserer Gegner wird noch manche Stütze zusammenbrechen sehen.