Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 9. Juli.

Die «Neue Zürcher Zeitung» vom 7. Juli veröffentlicht eine aus Kopenhagen datierte Schilderung des «Kriegsschauplatzes» der Seeschlacht am Skagerrak, die ich hier festhalten will:

«Schon am Tage nach der Schlacht vor dem Skagerrak berichteten die Mannschaften der die Kampfstelle passierenden Dampfer, dass sie stundenlang durch Leichen und wieder Leichen, Körperteile und blutgefärbte Wogen segelten. Sie stiessen auf hunderte und tausende der Opfer der Seeschlacht, deren Körper auf dem Meere umhertrieben. Kein Mensch kümmerte sich um sie. Durch den Tod vereint, schwammen Engländer und Deutsche Seite an Seite. Die Schar der herumschwimmenden Toten ist noch immer da. Kein Tag vergeht, ohne dass Dampferkapitäne oder Fischer da oben in den skandinavischen Gewässern der stundenlangen Prozession der Toten begegneten. Letzthin berichteten einige vom Meer heimkehrende Fischer, es hätten sich 22 Leichen in ihre Netze verirrt. Und bis an das Ufer und auf dieses treibt sie die Flut! Es wurden bereits mehrere hundert Leichen an der schwedischen und dänischen Küste gefunden. Und in welchem Zustand! Verwesend, verstümmelt, manchmal ohne Beine oder Arme, manchmal ohne Kopf, manchmal nur einzelne Körperteile, und gar oft von den Raubfischen des Meeres angefressen. Und jeden Tag treiben neue Scharen der Toten die Ufer herauf. Sie verpesten, bis sie aufgefunden werden, die ganze Gegend, wenn sich nicht Füchse, Wildschweine, Geier und Adler an ihren Resten sättigen. — Die Badesaison an der schwedischen viel besuchten Westküste hat eben eingesetzt. Man berichtet, dass beinahe jeden Tag die badenden fröhlichen Menschen diesen stummen toten Opfern des Kriegs, auf den Wogen bis zum Strande daherkommend, begegnen.

Man kann sich denken, dass die Verstimmung unter den Küstenbewohnern gross ist. Jeden Tag, Tag für Tag, werden die Leichen in schwedischer Erde unter grösster Teilnahme der Bevölkerung und mit reichlichen Blumenspenden gesegnet in fremder Erde gebettet.

Die schwedischen und dänischen Marinebehörden haben in letzter Zeit Marinedampfer ausgerüstet, um die auf dem Meer treibenden Leichen zu sammeln und der drohenden Gefahr, dass dieselben einmal an die Küste heraufgeschleudert und in irgend einer Ecke versteckt, zur Verbreitung von Seuchen beitragen könnten, einmal ein Ende zu machen. Weshalb haben aber die eigenen Landsleute, diejenigen Flotten, um derentwillen sie ums Leben kamen, ihnen nicht diesen letzten, so geringen Dienst geleistet? Hierin muss — wenn einmal der Friede kommt — eine Änderung geschaffen werden».

Es ist doch etwas Herrliches um den «frischfröhlichen» Krieg, etwas Herrliches um die «grosse Zeit». Fürchterlich sind aber die Irrsinnigen, die daran glauben und die Menschheit von 1916 noch daran glauben machen wollen.

Dabei gibt es Infame, die heute schon vom nächsten Krieg faseln. Helmut v. Gerlach erwähnt («Welt am Montag», 3. Juli) einen Artikel des russischen Generals Skugarewski im «Russkoje Slowo», der einen Krieg, wenn Deutschland nicht endgültig besiegt wird, in zehn bis zwanzig Jahren für unvermeidlich hält, und der das gesamte Staatsleben Russlands dieser angeblichen Notwendigkeit unterordnen will.

Dieses Spielen mit dem «nächsten Krieg», das ja auch bei uns Anhänger besitzt, ist der denkbar höchste Frevel, den man sich vorstellen kann. Es übertrifft an Verbrechertum die Politik, die den gegenwärtigen Krieg gezeitigt. Deren Führer kann noch zugute gehalten werden, dass sie sich keine Vorstellung machen konnten von dem, was ein Krieg heute in Wirklichkeit ist. Diejenigen aber, die seit zwei Jahren diesen Massenmord und tierischen Wahnsinn erleben, sind sich in viel höherem Grad des Verbrechens bewusst, das sie begehen. Für sie ist wahrlich kein Galgen hoch genug. Aber man sollte sie wahrlich nicht zu ernst nehmen. Der Krieg, der solche Verbrechen zeitigen konnte, wird auch die Erleuchtung zeitigen, die imstande sein wird, jene unschädlich zu machen. Hingegen sollte man versuchen, sie zu nutzen!

Jawohl, auch der Friede sollte sich auf die Ausnützung von Verbrechern einlassen wie der Krieg dies bei der Ausnützung von Spionen tut.

Wir sollten den Gedanken an einem demnächstigen Weltkrieg oder an eine Serie von Weltkriegen, wie dieser in manchem Kopf spukt, gar nicht bekämpfen. Die Hoffnung auf eine spätere Remedur des jetzt nicht Erreichbaren mag den Abschluss eines Kompromissfriedens erleichtern. Wenn man den Militaristen in allen Ländern nicht die Hoffnung auf Revanche lässt, werden sie den Bankrott des militärischen Systems, zu dem dieser Krieg geführt hat, nie einsehen und den Krieg fortführen wollen bis zum letzten Atemzug des letzten Europäers. Die Hoffnung auf eine Fortsetzung des Massakers nach einer Erholungspause, die imstande wäre, den Militaristen eine grosse und führende Rolle auch nach dem Abschluss eines Kompromissfriedens vorzugaukeln, vermag uns zu retten, indem es uns eine Beendigung dieses Krieges in Aussicht stellt, ehe alle vernichtet sind. Um das handelt es sich aber vorerst. Nachher mögen sie kommen und uns von der Veranstaltung eines neuen Krieges reden. Die Menschheit wird gewitzigt sein und wird den Kampf mit ihren Verderbern aufnehmen. Ich hege keinen Zweifel, dass sie dann mit ihnen fertig werden wird.

Lassen wir ihnen also die Hoffnung auf den «nächsten Krieg!» —

* * *

Eine Depesche aus München vom 7. Juli in der «N.Z.Z.» berichtet:

«Zur Bekämpfung der infolge der langen Kriegsdauer überhandnehmenden Geschlechtskrankheiten werden in den deutschen Großstädten offizielle Beratungsstellen errichtet, welche alle Massnahmen zur Eindämmung der Krankheiten zu treffen haben. Nachdem sich diese Stellen bereits in Berlin und Hamburg bewährt haben, wurde nun auch in München eine solche errichtet».

«Bewährt!» Was hat sich da wohl bewährt? Das ist doch eines der lang nachwirkenden Übel des Kriegs, den man doch als «Stahlbad» der Menschheit bezeichnet. Wie heisst es doch? «Ohne Krieg würde die Menschheit in Marasmus verfallen?» Die Millionen Syphilitiker, die Europa verpesten werden, lange nachdem das letzte Opfer dieses Gesellschaftsspiels begraben sein wird, scheinen nach dem Rezept der Militaristen das beste Schutzmittel gegen den Marasmus des Friedens zu sein. — Und nun redet man sich ein, weil man gegen die Seuche einen Verein gegründet hat, dieses Übel sei so leicht, dass man es damit bereits überwunden habe. Arme einfältige Menschheit! —

Und weil ich gerade von Marasmus spreche, da eine Depesche aus Wien («Berliner Tagblatt» vom 7. Juli):

«Fürst Max Hohenberg, der Sohn des ermordeten österreichischen Thronfolgers, hat, wie uns ein Privat-Telegramm aus Wien meldet, die ,Jugendgebetsvereinigung zur Erflehung eines baldigen günstigen Friedens’ gegründet. Mitte Juni zählte man bereits über 14.000 Mitglieder».