Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 7. Juni.

Wichtiges! Die Rede des Reichskanzlers bei der dritten Lesung des Etats vom 5. Juni und Lord Kitcheners Tod auf einem torpedierten Kriegsschiff.

Diese letzte Nachricht wirkte verblüffend. Der Oberbefehlshaber der neuen englischen Armee toi! Und auf solche Weise. Ins nasse Grab versenkt mit seinem ganzen Stab. Es liegt eine grosse Tragik in diesem Schlag, obwohl das Schicksal Kitcheners in diesem Mordvorgang bereits Zehntausenden zuteil wurde.

Kitchener war einer der grausamsten Kriegsmänner. Seine Vernichtung der Derwische in Sudan, die Behandlung des besiegten Mahdi, dessen Leiche er ins Meer werfen liess, um sie zu schänden, sein Auftreten im Transvaal bezeichnen die blutigsten Kapitel der Menschheitsgeschichte. Nun ist er selbst, und lebend, ins Meer geworfen worden, und auch sein Leichnam wird in jenen Tiefen ruhen, in denen er seinen Gegner, den Mahdi, verschwinden liess.

Der Verlust des ersten Heerführers ist ein schwerer Schlag für England. Aber auch das ist kein Sieg, nur eine gewonnene Schachpartie.

Die Reichskanzlerrede enthält indirekt ein wichtiges Friedensmoment, wenn sie auch in ihrem ersten Teil das Kriegsende als ziemlich aussichtslos erscheinen lässt. «Die Feinde wiesen uns mit Hohn und Spott ab. Damit wird jedes weitere Friedensgespräch, wenn es von uns begonnen wird, zurzeit nichtig und von übel». So heisst es im ersten Teil der Rede, und das klingt sehr ablehnend, wenn man bedenkt, dass der Kanzler wieder auf die Kriegskarte hingewiesen hat, die er, wenn auch nicht als Grundlage des Friedensschlusses, doch bezeichnete.

Aber der zweite Teil der Rede verheisst Frieden, denn er zeigt, dass der Reichskanzler stark genug ist, den alldeutschen Phantasten mit starker Faust entgegenzutreten, und dass er eine demokratische Orientierung der innern Politik für die Zukunft durchblicken lässt. Wenn das der Fall ist, gewinnt seine These an Richtigkeit, wonach nach dem Krieg auch Deutschland für die Sicherung eines Friedenszustandes auf organisatorischer Grundlage zu haben sein und entschlossen mitarbeiten wird. Mein mir als «unbegreiflicher Optimismus» ausgelegtes Wort von dem Militarismus, der bereits besiegt ist, den deshalb die Westmächte durch eine Hinausziehung des Friedensschlusses nicht erst zu vernichten sich vergeblich bemühen sollen, gewinnt an Bedeutung, seitdem der Reichskanzler erklärt hat, dass wir nach dem Krieg die Unterscheidung zwischen nationalen Parteien und andern «endgültig fahren lassen, weil sie keine Berechtigung mehr hat und weil das Nationale sich von selbst versteht». Das Nationale wird daher künftig auch dort anerkannt werden und Geltung besitzen, wo es sich um die Herstellung einer internationalen Organisation handelt. Es wird endlich verstanden werden, was wir Pazifisten immer gesagt haben, dass unser Internationalismus, den man uns so oft zum Vorwurf gemacht hat, nichts weiter als veredelter Nationalismus ist, und dass, er den Weg zeigt, um ohne unerhörte Blutopfer und Milliardenvergeudung zur nationalen Sicherheit zu gelangen. Und wenn das verstanden wird, dann hat jenes politische System ausgespielt, das man im Ausland (und vor dem Krieg auch im Inland) als «preussischen Militarismus» bezeichnte. Und dass man dies schon heute in deutschen Regierungskreisen versteht, besagen jene Sätze des Reichskanzlers, wo er von der «neuen Zeit» spricht, die nach dem Krieg kommen wird. «Es wird eine neue, es wird eine andere Zeit sein, mit neuen geistigen Bewegungen, mit neuen sozialen Ansprüchen, mit neuen Forderungen». Jawohl, das ist richtig. Und obenan bei diesen neuen Forderungen steht die Forderung des Pazifismus.

Ein grosses Wort hat der Reichskanzler gesagt, als er von den «Piraten der öffentlichen Meinung» sprach, die «leider häufig Missbrauch mit der Flagge der nationalen Ehre» treiben. Einst sprach Lord Churchill von den «Wegelagerern der Politik»; er äusserte damals den Satz: «Gott schütze uns vor unserer nationalen Presse». Endlich wird der Schwindel erkannt, der unter der Schutzmarke der nationalen Gesinnung getrieben wird.

Für uns Pazifisten, die wir seit Jahrzehnten für die Verständigungsarbeiten zwischen den Völkern wirkten und darob von der alldeutschen und nationalen Presse fortwährend angepöbelt wurden, (hatte doch die «Deutsche Tageszeitung» und Konsorten erst neulich die Unverfrorenheit von mir zu sagen, dass es meine «alte Tradition vor dem Krieg» war, «unsern Gegnern Material zu ihrer Hetze zu liefern»), ist es doch eine hohe Genugtuung, aus dem Munde des Reichskanzlers zu hören, wie er selbst stolz ist auf die Verständigungsarbeit, die er geleistet. Was er von sich in dieser Hinsicht sagt, sagt er für jeden Pazifisten:

«Ich habe den Versuch (der Verständigung mit England) gemacht und schäme mich seiner nicht, auch wenn er nicht geglückt ist. Wer als Zeuge dieser bald zwei Jahre dauernden Weltkatastrophe mit ihren Hekatomben von Menschen opfern mir daraus ein Verbrechen macht, der mag seine Anklagen vor Gott vertreten. Icvh sehe der Entscheidung mit Ruhe zu».

Mit welchem Selbstbewusstsein erst können wir das sagen, können erst wir deutschen Pazifisten uns diesen «Piraten der öffentlichen Meinung» entgegenstellen, die uns als Freiwild betrachten.

Eine schwache Stelle der Reichskanzlerrede ist jene, wo er den interessanten alldeutschen Vorwurf zurückweist, dass er dadurch, weil er die Mobilisierung um drei Tage verzögert habe, schuld an Strömen vergossenen Blutes unseres Volksheeres hätte. Also diesen Eisenfressern war die Verzögerung um drei Tage noch zu viel?! Sie wollten also den Krieg um jeden Preis, sie wollten einen Überfall, auf dass Europa künftig keinen Tag mehr sicher sein dürfe in der Furcht vor einem gleichen Überfall. Diese Leute wollten nichts wissen von Versuchen, den Konflikt beizulegen. Auf solche Lächerlichkeiten sich einzulassen hielten sie für überflüssig. Und diese Schuldigen wagen noch, die Blutschuld auf jenen zu wälzen, der wenigstens drei Tage für die Vernunft noch retten wollte. Hier versagte die Antwort des Reichskanzlers. Der Krieg wäre vermieden worden, wenn statt der drei, acht oder zehn Tage gewonnen worden wären. Aber diese zu sichern, hatte er den fiebernden Kriegseifer der Hetzer und der Erzbereiten gegenüber nicht die Kraft, nicht die Macht. Er musste sich sagen: «Es rast der See und will sein Opfer haben». Das war damals der Sieg des Militarismus in Reinkultur. Jener Mächte, die unter der Androhung der vollständigen Wertlosigkeit des Rüstungsapparates die sofortige kriegerische Aktion, die Ausnützung des Überrumpelungs-Effektes der Wehrkraft forderten, und so die Macht besassen, auch den unscheinbarsten Konflikt zum Krieg zu entwickeln. Jene Kräfte haben das Blut des deutschen Volkes auf dem Gewissen, die Not und das Verderben Europas, und über ihre Schuld vermögen uns auch nicht die erläuternden Worte des Kanzlers hinwegzutäuschen. Damals war er nicht stark genug, den Krieg zu hemmen. Und der Friede wäre mit genügend festem Willen und weniger Glauben für die Notwendigkeiten der Eisenfresser zu retten gewesen. Über dieses Faktum kommen wir nicht weg, wird die heutige Generation Zeit ihres Lebens nicht hinwegkommen. Allen Sündern sei verziehen, wird es heissen, nur jenen nicht, die in diesen kritischen Tagen an der Macht waren und diese nicht bis zum vollen Erfolg der Friedenserhaltung ausgeübt haben. Sie hätten den Krieg verhindern können. Sie hätten ihn verhindern müssen.

Den «Piraten der öffentlichen Meinung» hätte man eben schon früher das Handwerk legen müssen. Dass man ihnen freies Spiel liess, schuf jene Situation, die man nachher nicht anders meistern zu können glaubte als durch die Kriegserklärung.

Und doch ist diese Kanzlerrede ein Fundament. Man wird eines Tages den Kriegsschluss darauf errichten können und vielleicht auch zu einem Friedensschluss gelangen, der ein wirklicher Friede ist.

Und noch eine weitere Festigung dieses Fundaments brachte der Reichstag am 5. Juni. Die Bewilligung von weitern 12 Milliarden für den Krieg. Damit ist das halbe hundert der Kriegsmilliarden erschöpft Wird das noch lange weiter gehen?