Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Mürren, 11. August.

Die «Rundschau», ein österreichisches Militärfachblatt, bespricht (21. Juli) meine «Europäische Wiederherstellung». Sie entdeckt im Pazifismus ebenso wie im Sozialismus einen Kardinalfehler: die Ausserachtlassung des «Trieblebens». «Mit Staunen, Bewunderung und auch Humor betrachten wir die Leute, die den Mut hatten, die Natur verbessern zu wollen.» Gut, dass auch der Humor dabei ist, sonst könnte man ob dieser Weltanschauung in arge Verzweiflung geraten. Wenn es nicht Leute gegeben hätte (und noch gibt), die den Mut hatten, die Natur zu verbessern, wären wir noch alle höhlenbewohnende Kannibalen. Sieht der skeptische Kritiker nicht, dass alle Kultur nichts anderes ist als verbesserte — das heisst dem sozialen Bedürfnis der Menschheit angepasste — Natur, überwundenes «Triebleben»? Ist denn der Staat von seinen Anfängen bis in seine gegenwärtige komplizierte Gestalt etwas anderes als eine grosse Maschine zur Überwindung der Naturtriebe? Vollends höre man aber auf, den Krieg als Triebäusserung zu bezeichnen. In unseren Kulturbreiten ist der Krieg nichts weniger als Trieb. Ohne den ungeheuren Zwang, den dabei der Staat ausübt, um den mächtigsten aller Triebe, den Selbsterhaltungstrieb zu überwinden (der schlagendste Beweis, dass wir nicht der Spielball unserer Triebe sein müssen, und dass sich der Militarismus als der gewaltigste Naturverbesserer erweist), gäbe es keine Kriege mehr. Krieg ist Zwang, nicht Trieb.

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Friedensgerüchte. Nach einer Meldung der Petersburger «Börsenzeitung» soll Kaiser Wilhelm durch den König von Dänemark Russland den Frieden angeboten haben. Unwahrscheinlich. Die grösste Forderung des Friedensschlusses wäre eine Demission sämtlicher Diplomaten, die zur Zeit des Kriegsausbruchs im Amte waren. Die Völker dürfen zu jenen Männern kein Vertrauen mehr haben, die diesen Zusammenbruch Europas nicht zu verhindern vermochten und nun nach Knabenart einer dem andern die Schuld zuzuschieben suchen. Ein jeder dieser Männer ist ein Hindernis für die Wiederherstellung, und die Völker müssten sie samt und sonders auffordern, von ihren Ämtern zurückzutreten, wie man eine Richterkammer, deren Urteil beeinflusst erscheint, als «befangen» ablehnt. Die Befreiung Europas von seinen bisherigen Geschäftsführern wäre der erste Schritt zur Wiederherstellung des zerrütteten Erdteils.