Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. Mai.

Nochmals die Reichskanzlerrede. Diese Unterordnung der Diplomatie unter die rein militärische Auffassung als Kennzeichen dessen, was man «Militarismus» nennt, als Quelle jenes Unheils, das heute auf der Menschheit lastet, hat Munroe Smith, Professor der Rechtswissenschaften an der Columbia-Universität in New-York, in einer Schrift niedergelegt, die betitelt ist: «Der Widerstreit zwischen militärischer Strategie und Diplomatie zu Bismarcks Zeiten und danach». Er zeigt darin, wie Bismarck in ähnlichen Lagen gehandelt hat und welch heftige Kämpfe er als weitschauender Staatsmann mit den um ihre Vorherrschaft ringenden Militärs auszufechten hatte. Am 29. Juli 1914 hätte Bismarck sicherlich allen militärischen Gesichtspunkten gegenüber mit seinem weitblickenden staatsmännischen Geist triumphiert. Er hätte die Gefahr der vor sich gehenden russischen Mobilisierung auf sich genommen und wenigstens versucht, den Weg der friedlichen Beilegung zu gehen. Vielleicht wäre die Lösung in wenigen Tagen gekommen, und wenn nicht, dann wäre es immer noch möglich gewesen, die russische Mobilisierung zum Stillstand zu bringen, mit dem Abbruch der Verhandlungen zu drohen, oder durch die eigene Mobilisierung das russische Vorgehen zu paralysieren. Man musste sich doch klar werden, um was es sich handelte. Um den furchtbarsten Eingriff in die Geschicke der Menschheit, den die Erde noch nie erlebt hat, und den mit allen Kräften zu vermeiden, einfach die Vernunft gebot.

Durch den raschen Entschluss im militärischen Sinn ist das oberste Gesetz der Friedenslehre verletzt worden, das Gesetz der aufschiebenden Behandlung zwischenstaatlicher Konflikte.

Die Konferenz hätte Europa gerettet! Nicht nur, weil sie diesen Krieg vermeidbar gemacht hätte, auch weil sie dadurch für die Zukunft ein befreiendes und rettendes Beispiel gegeben hätte.

* * *

In einem Brief Macdonalds an die englischen Sozialisten befindet sich der Satz «Renaudel hat erklärt, dass er keinen Frieden der Regierungen, sondern einen Frieden der Völker will». Das ist der springende Punkt. Wir werden zwar um den Friedensschluss der Regierungen nicht herumkommen, aber nachher wird der Friede zwischen den Völkern gemacht werden müssen. Eher ist der Krieg nicht zu Endel Und man wird es sich nicht gefallen lassen dürfen, dass nur die Diplomaten wieder verkehren, und die Völker gegenseitig sich in Hass verzehren sollen. Frieden zwischen Menschen werden wir haben müssen, nicht zwischen Ländern.