Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

19. März (Lugano) 1915.

Seit vorgestern hier. Das Leben vollständig italienisch. Und doch keine Irredenta-Stimmung. Die Italiener sind hier ebensogut Schweizer, wie die Deutschen im Norden und die Franzosen im Westen. Hier in der Schweiz ist das Nationalitäten- Problem gelöst. Es liegt einfach in der Demokratie. Die Völker Europas könnten ebenso friedlich miteinander leben, wenn sie sich alle zur Demokratie durchgerungen hätten. Der Nationalismus ist gar nicht der gefährliche Kriegsantrieb, als der er uns dargestellt wird. Der Mangel einer demokratischen Regierungsform macht ihn erst dazu. Der Gegensatz unsres veralteten Feudalsystems zu den nationalen Forderungen der Gegenwart erzeugt jene Gegensätze, die das Heerwesen zum Militarismus und die Staatenstreitigkeiten zum Krieg ausarten lassen.

Etwas abgeschnitten vom Nachrichtenverkehr ist man hier. Es dauert länger bis die deutschen, lang bis die deutschschweizer Zeitungen über den Gotthard kommen. Die Mailänder Blätter, freilich, sind schon am frühen Morgen hier. Aber sie gestatten kein Urteil. Sie sind zu nervös und gehässig. Manchmal wähnt man, drüben geht der Krieg schon los. In Wirklichkeit scheint mir dort die kriegerisch erregte öffentliche Meinung nur der von der Diplomatie ausgelassene Dampf zu sein, dessen Zischen ihre Forderungen unterstützen soll. Sollte Österreich-Ungarn wirklich durch Deutschland gezwungen werden, seinen italienischen Besitz, wenn auch nur teilweise, an Italien abzutreten, so wäre dies der unerhörteste Vorgang der neueren Geschichte. Aber auch die logische Folge des Krieges; ein Ergebnis der Anarchie, die man zu beseitigen sich nicht bemüht hatte. Auch in seinen Folgen gar nicht auszudenken. Es wird die Monarchie von Deutschland trennen. Wenn das Reich durch die kriegerische Einmischung Italiens sich gefährdet sieht, so sollte es diese Einmischung nicht auf Kosten Österreich-Ungarns zu verhindern suchen, sondern rasch jenen Frieden schliessen, der nach dem oben wiedergegebenen Ausspruch des Präsidenten des Preussischen Herrenhauses «nicht allzuschwer, binnen kurzem» zu erlangen wäre.

Unsre Militärs haben so oft dargelegt, dass die rücksichtsloseste Kriegführung die humanste sei, denn sie kürze die Leiden des Kriegs für die Bürger und Soldaten ab. Wie inhuman muss dann dieser Krieg sein, der nun schon so lange dauert und durch keine Aktion ein Ende absehen lässt. — Er bringt nur Leiden, ohne Aussicht auf ein Ende und spätere Erleichterung.

Der Krieg hat in technischer und wirtschaftlicher Beziehung soviel Notwendigkeiten des Umlernens gezeitigt, dass man über neue Notwendigkeiten gar nicht mehr überrascht ist. Man scheint sich über die Umgestaltungen jener Einrichtung Krieg doch noch nicht im vollen Umfang Rechnung zu legen.

Dass der Krieg nicht mehr die Gestalt der uns aus unsrer Jugendzeit her bekannten Schlachtenbilder hat, wo immer ein Offizier mit dem Degen im vorwärts gestreckten Arm die Truppen führt, der Feldherr, hoch zu Ross, auf einem Hügel steht, das wissen wir schon. Dass die Entscheidungsschlachten aufgehört haben, solche zu sein, daran haben wir uns auch schon gewöhnt. Die glänzenden Reiterattacken, die Spaziergänge nach der feindlichen Hauptstadt, der Kriegsberichterstatter, der etwas gesehen hat, daran noch zu glauben, würde jedem den Vorwurf der Rückständigkeit eintragen. Nur in einem Punkte scheint man noch nicht umgelernt zu haben; nirgends. Man glaubt, dass der Krieg auch noch einen Sieger nach alter Methode zeitigen muss. Man gibt sich auf allen Seiten noch der Hoffnung hin, dass ein schliesslicher Entscheidungsschlag das Zusammenbrechen des Gegners herbeiführen und einen gebieterischen Sieger schaffen müsse, der in der Hauptstadt des Feindes seinen Frieden diktieren wird. Wie unmodern, so zu denken! Auch hier hat die Technik Umwandlungen geschaffen, die es einem jeden Volk ermöglichen, sich so einzurichten, dass eine völlige Vernichtung zur Unmöglichkeit wird. Man versteht es, sich auf den Krieg einzurichten. Das Ende des Kriegs wird daher nicht von einem Sieger herbeigeführt werden, sondern durch ein Kompromiss aller Beteiligten. Man vermag die Nachteile der Kriege, dank der modernen Technik vielleicht leichter zu ertragen. Und nicht durch deren Unerträglichkeit gezwungen, wird man dem Kriegszustand ein Ende machen, sondern infolge der allmählich Platz greifenden Erkenntnis, dass Vorteile nicht durch die Fortführung des Kriegs, sondern am besten durch dessen Beendigung zu erzielen sind. Die Staaten werden dann einen Weg einschlagen, den sie erfolgreicher allerdings schon vor dem Krieg hätten einschlagen können, den Weg des Kompromisses.

Darin wird die Bedeutung des künftigen Friedensschlusses liegen. Das Kompromiss wird eine bessere Grundlage für das künftige Zusammenleben bieten als Sieg und Niederlage dies je vermochten. Für die Vergeltungstheorie wird es dann weniger Anhalt bieten als die bisherigen Friedensschlüsse. Umsomehr wird er die Zusammenhänge des Erdteils veranschaulichen und die Arbeit für die Organisation Europas erleichtern.

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Mit ausserordentlichem Vergnügen zwei neue Hefte (Januar und Februar) des von Wilhelm Herzog herausgegebenen «Forum» (München) gelesen. Die Artikel Herzogs wahre Lichtblicke. Bernstein gibt in einem Artikel «Hass und Krieg» ein prachtvolles Zitat, das gegen die Preiser der Tugenden und Vorteile des Krieges gerichtet ist. Es soll hier festgehalten werden.

«Ein englischer Dichter und Humorist des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, Charles Lamb, hat eine satirischdidaktische ,Abhandlung über das Braten von Schweinen’ geschrieben, in der sich die Stimmung einer Zeit wiederspiegelt, welche die Regenarationskur der napoleonischen Kriege genossen hat. Lamb erzählt darin von einem Mann in China, der sein Haus anzündete, um sein Schwein zu braten. Diese Sitte, Schweinebraten herzustellen, sei lange, lange Zeit befolgt worden, bis eines Tages ein weiser Mann erstand, der die Entdeckung machte, dass man Schweinefleisch auch kochen könne, ohne ein ganzes Haus darüber niederzubrennen. Da habe dann die erste rohe Form des Bratens auf dem Rost ihren Anfang genommen. Ein oder zwei Jahrhunderte später kam das Braten am Spiess und an der Kette auf. So langsam, heisst es am Schluss bei Lamb, machen die nützlichsten und anscheinend naheliegendsten Künste ihren Weg in der Menschheit! Und Wallas, der diesen Satz zitiert, fügt hinzu: ,Wir haben jetzt unsere nationalen Häuser so umfangreich und kompliziert gemacht, dass die Sitte, sie in Brand zu stecken, um unsre Seelen zu erwärmen, von Jahr zu Jahr gefährlicher und kostspieliger wird!’»