Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 11. Oktober.

Gestern war in der ganzen Schweiz das Gerücht verbreitet, Kaiser Wilhelm habe zugunsten eines seiner jungem Söhne abgedankt. Die Freude, die dieses Gerücht allenthalben auslöste, war groß. Es wurde klar, dass eine solche Abdankung uns dem Frieden näher — sehr nahe — brächte. Mit einem Schlag wurde durch dieses Gerücht die ganze Situation beleuchtet. Es ist der Kaiser der Träger jenes Systems, das den Krieg gebracht, das ihn, in dem Streben, zum Sieg zu gelangen, ins Unendliche verlängert hat, und das auch heute noch den Glauben an die Demokratisierung nicht aufkommen lässt. Der Abgang jenes Mannes, der der Träger jenes unheilvollen Systems ist, kann allein den Wandel bringen. Es ist das Mindeste, was das Volk verlangen kann. Das Mindeste! Denn schließlich ist es keine Befriedigung, dass ein Mann sich ruhig ins Privatleben zurückzieht, nachdem er 16 Millionen Menschenleben und all das Furchtbare, was sich sonst in diesen vier Jahren ereignete, am Gewissen hat. Es ist zu hoffen, dass das deutsche Volk von selbst den Abgang des Kaisers fordern wird, vielleicht gleich die Abdankung der gesamten Hohenzollerndynastie, ehe die Feinde diesen Abgang erzwingen werden. Die dritte Frage Wilsons, die mir zu Anfang nicht ganz klar war, scheint ja darauf hinzudeuten. Wilson will wissen, ob das alte System noch lebt. Die Antwort mit dem Hinweis auf die gegenwärtige parlamentarische Regierung wird ihn zu der Gegenantwort veranlassen, dass dieses parlamentarische System nicht durch die Verfassung verbürgt ist, sondern durch einen Willensakt des Kriegskaisers, der morgen, wenn es ihm passt, durch eine Veränderung seines Willens, die allen militärischen Helden wieder ans Ruder sehen kann. Das ist der große Übelstand der jetzigen Regierung. Es sitzen Sozialisten und Demokraten in ihr und auch sonst liberal denkende Köpfe, die Gegner des miltärischen Gewaltsystems sind. Aber hinter ihnen sitzen die Gewaltmenschen und warten auf ein Versagen dieser Parlamentarier, das ja bei den Schwierigkeiten, denen sie gegenübergestellt sind, und den Krisen, denen sie werden begegnen müssen, nicht unmöglich ist, um an ihre Stelle zu treten und sich dem Volk neuerdings als Retter zu empfehlen. Es wird ihnen dies vielleicht nicht leicht werden. Da aber die Gefahr besteht, so fehlt die Sicherheit dem neuen System. Schon schreibt die «Kölnische Zeitung» unter dem Beifall Reventlows, dass wir uns, falls Wilson ablehne, «wieder auf unsern Militarismus zu besinnen und zu stützen haben werden». Dafür sollte man der «Kölnischen Zeitung» dankbar sein. Sie zeigt, woran es fehlt. Ein solches «wieder» muss ausgeschlossen sein für immer. Eine Regierung, mag sie noch so demokratisch sein, die man einfach als demokratische Grimasse, als Larve betrachtet, die man ablegen kann, wenn man will, wird uns niemals, niemals jenes Vertrauen der Welt bringen, das für die Beseitigung dieses Kriegs notwendig ist. Das ist es ja eben, was alle fürchten, fürchten müssen, dass man in Deutschland die Demokratie und den Völkerbund heuchelt, um zu einem raschen Frieden zu kommen, dass man nachher das alte System wieder ans Ruder kommen lassen will. Das alte System lebt noch. Es muss verschwinden, völlig verschwinden, und dazu gehört mehr als die eine demokratische Geste.

Der Militarismus scheint sich noch ausleben zu wollen, ehe er krepiert. Das beweist er jetzt wieder einmal vor Cambrai. Die Deutschen haben die Stadt geräumt, die sie seit August 1914 in Händen hatten. Zu ihrem erstaunen fanden sie die Alliierten ziemlich unversehrt. Aber nachdem sie sich dort eingerichtet hatten, gingen Höllenmaschinen los, die die Deutschen vor dem Abzug gelegt hatten, und die Stadt wurde mit den in ihr sitzenden Truppen zu einem Schutthaufen verwandelt. Man sieht, die militärische Bestie will dem Volk das Friedenschließen sauer machen.

Und in allen Fugen kracht es. In der Türkei ist das Ministerium gestürzt, Enver Pascha ein gefallener Götze von gestern, und ein ententophiles Ministerium scheint mit den Westmächten zu verhandeln. Was in Österreich-Ungarn vorgeht, ist nur zu erraten. Es scheint, alles in voller Gärung zu sein. Der Bundesstaat der freien Nationen ist eine ausgemachte Sache, und der Pazifist Lammasch soll das Ministerpräsidium übernommen haben. Die Ungarn wollen sich loslösen und einen selbständigen, bloß durch Personalunion mit Österreich verbundenen Staat bilden. Polen hat den von Deutschland begründeten Staatsrat aufgelöst und will eine auf breiter demokratischer Grundlage beruhende Konstituante für den freien polnischen Staat einberufen.

Alles atmet freier und glücklicher, seitdem der deutsche Militarismus verblutend am Boden liegt und die Amokläufer des Alldeutschtums verröcheln. Die gesamte Menschheit, das deutsche Volk inbegriffen, atmet auf.

Nun werden die Schlauen, die Immerweisen wieder sagen: der Krieg ist also doch ein Kulturförderer, und sie werden ihn rechtfertigen wollen. Glaubt ihnen nicht! Sie lügen. Der Krieg ist nur ein Befreier von den von ihm selbst der Menschheit auferlegten Fesseln. Er befreit nur von dem, was vorher das Kriegssystem geknebelt und gehemmt hat. Schafft man den Krieg ob, wird ohne solchen Aderlaß das Leben dauernd und stets ungehemmt immer höherer Entwicklung zustreben. Das hat der Pazifismus jahrzehntelang gelehrt. Jetzt dämmert euch erst diese grobe Mahnung. Er siegt, er bringt jetzt das Kriegsende und die Friedenssicherung. Es wird «kein weicher Friede» sein, den er dem Militarismus und seinen Stützen auferlegen wird.