Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 28. August.

Sonntag besuchte mich ein junger Franzose (R. L.), Invalide von Verdun her, mit Zukunftsideen für eine internationale Revue nach dem Krieg. Er war von Romain Rolland an mich gewiesen. Es wächst da drüben eine Jugend heran, die sich vom stupiden Hassfreihält, die aus dem Krieg gelernt hat. Ihr Hass gilt dem Militarismus, dem Chauvinismus, den Kriegsnutznießern. Diesen Eindruck hatte ich aus der Unterhaltung mit jenem jungen Mann. Einmal sagte er mir, als wir auf einer Aussichtsbank die herrliche Landschaft des Thuner Sees betrachteten : Ist es nicht wahnsinnig, dass wir uns dazu verführen lassen, uns gegenseitig die Köpfe zu spalten. Heute dankt er mir in einem Brief für die Zusammenkunft. «Elle fut comme un avantgout de la puissante joie du travail en commun, qu’après les ,temps maudits` nous pourrions édifier.»

Im Reichstag wurde ein «Siebenerausschuss» errichtet, der mit der Regierung Fühlung nehmen kann. Ein wertloses Palliativ für das Demokratisierungsverlangen. Aspirin für einen hohlen Zahn. Kurpfuscherei. Als Vorwand gegen eine durchgreifende Demokratisierung wird der Bundesstaatscharakter des Reichs betont. Als ob das bei ernstem Willen ein Hindernis sein könnte. Die Sache sieht wirklich hoffnungslos aus. Wenn ein solcher Widerstand aufgewendet wird gegen das Verlangen, das Schicksal von 70 Millionen, durch diese selbst bestimmen zu lassen und nicht durch eine bevormundende Gruppe unverantwortlicher Personen, wenn dieser Widerstand aufgewendet wird, nachdem dieses Millionenvolk durch die Machenschaften dieser kleinen Gruppe in den furchtbarsten Krieg gerissen wurde, kann man kaum mehr die Hoffnung haben, dass Deutschland ehrlich und überzeugt sich die viel größere Beschränkung einer zwischenstaatlichen Organisation auferlegen wird. Große Volksteile haben von dem Wesen und auch von der Notwendigkeit dieser Organisation keinen Begriff. So konnte der -nationalliberale Abgeordnete Stresemann im Hauptausschuss (23. August) auf des Staatssekretär v. Kühlmanns Theorie von Macht und Recht erwidern, es sei falsch, dass eine Politik der Macht keinen Bestand habe. «Ein Machtfrieden zusammen mit der Pflege von Bündnissen werde sehr wohl von Dauer sein können.» Also: das alte Spiel. Und ein Konservativer — anscheinend Graf Westarp — sagte in der selben Ausschüsssitzung dem Staatssekretär, dass zur Durchführung des Rechts die Macht gehöre. — Sehr richtig! Aber nur wenn die Macht im Dienst des Rechts steht, sonst hört das Recht auf, Recht zu sein. Die Konservativen stellen sich aber ein eigenes, von ihnen aufgestelltes und mit ihrer eignen Macht durchgeführtes Recht vor, also nichts anderes als anarchistische Gewaltherrschaft, die mit dem Wörtchen «Recht» nur verkleidet werden soll. Räubermoral! Und das soll zu einer europäischen, zu einer Weltordnung schreiten. Nein, mein lieber Herr Vizekanzler Helfferich, der Krieg ist nicht, wie Sie im Hauptausschuss am 23. ausgeführt haben, «das Ergebnis einer Spannung, die dadurch entstanden sei, dass England ein immer schreienderes Missverähltnis zwischen seiner überlegenen See- und Weltmacht und der wirtschaftlichen Kraftentfaltung Deutschlands empfunden habe,» womit Sie sich und das blutende deutsche Volk täuschen, der Krieg ist das Ergebnis einer Spannung, die dadurch entstanden ist, dass die führenden Schichten Deutschlands von den, den Frieden sichernden Notwendigkeiten und Möglichkeiten, die die übrige Welt bereits erkannt hat, keine Ahnung hatten. Der Antipazifismus der Regierenden, die Gleichgiltigkeit der Parteien gegenüber dem Pazifismus hat Deutschland in diesen verhängnisvollen Krieg getrieben. Solange Ihr diese Wahrheit nicht erkennt, rast das Unheil weiter.