Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 4. Oktober.

In meinen Eintragungen vom 20. September habe ich auf die Fälschungen hingewiesen, die von deutschen Zeitungen dadurch begangen wurden, indem die wahnsinnigen Expektorationen der «National Review» als die Anschauungen des englischen Volks dargestellt werden. Dies bestätigt jetzt der «Manchester Guardian» (30 Sept. abgedruckt im «Berl. Tageblatt» vom 2. Okt.), der in einem Leitartikel schreibt:

«Von Deutschland, das 12 Monate lang den Frieden unter Bedingungen von Eroberung und Einverleibung angeboten hat, wird jetzt behauptet, dass es von Anfang an um nichts anderes gekämpft hat, als um die Verteidigung seines Existenzrechts und seiner Freiheit. Der Kanzler gibt eine Karrikatur von dem, was England will, nämlich ein militärisch wehrloses, wirtschaftlich vernichtetes, von der Welt boykottiertes Deutschland. Das ist das Deutschland, das England, dem Kanzler zufolge, zu seinen Füssen sehen möchte. Der Reichskanzler muss aber eben so gut wie die andern Leute wissen, dass diese Worte nur durch die Äusserungen von Fanatikern und Extremisten gerechtfertigt werden könnten, denen man ebenso oder noch mehr übertriebene Expektorationen auf deutscher Seite über England gegenüberstellen könnte. Es ist jetzt an der Zeit, dass Männer, wie der Reichskanzler, der Wirklichkeit Rechnung tragen und einsehen, was England und seine Verbündeten tatsächlich wollen, und ob das, was sie wollen, mit der Sicherheit und Freiheit Deutschlands tatsächlich unvereinbar ist, vorausgesetzt, dass dieses sich dazu versteht, den Militarismus und seinen territorialen Ehrgeiz aufzugeben.»

Wenn diese beiden Völker nur wollten, so könnten sie sich durch die Nebel der Kriegspsyche hindurch verständigen. Aber man will nicht. Namentlich in Deutschland sind es weite Kreise, für die die Nichtverständigung mit England eine politische Existenzfrage ist. Die Verständigung des Reichs mit England würde eine liberale Neuorientierung des Innern mit sich bringen, und das ist es, was die chauvinistischen Parteien fürchten. Darum haben sie kürzlich in München einen «Volksausschuss für rasche Niederkämpfung Englands» begründet, der in allen Teilen des Landes schnell Anschluss gefunden hat. Den Hass gegen England schüren ist die Aufgabe jenes neuen Verbands. Sie sehen nicht, welche Verrücktheit darin liegt, dass das deutsche Volk, das aufgeboten wurde, den Zarismus zu bekämpfen, und das für dieses Ziel sein Blut hergab, jetzt nach zwei Jahren des erbittertsten Kampfes dem Zarismus in die Arme getrieben werden soll. Denn nichts anderes als eine Anbiederung an den Zarismus ist diese Hassverbreitung gegen England. Sie sehen auch nicht, wie unwürdig diese Hasserregung gegenüber dem kalt und nüchtern bleibenden England ist. All das ist jenen einerlei, für sie liegt die Hauptsache nur darin, dem blutenden deutschen Volk die Idee zu verscheuchen, die Einrichtungen der innern englischen Politik auf das eigene Land übertragen zu wollen. Darum dieser niedrige knirschende Hass, der zu Beginn des Kriegs schon entfacht war, aber rasch wieder verrauchte, weil sich das deutsche Volk seiner Würde besann und denjenigen Fusstritte versetzte, die es um diese Würde bringen wollten. Es wird den neuen Hassaposteln noch viel schlechter gehen; denn der Ernst der Stunde wird das deutsche Volk bald erkennen lassen, dass jene Hetzer es nicht nur um seine Würde, sondern auch um seine freiheitliche Entwicklung, den einzigen würdigen Lohn für das vergossene Blut, bringen wollen.