Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 15. November.

Heute erhielt ich aus «Berlin Reichstag» die folgende Depesche:

«Bund Neues Vaterland hielt Sonntag vor dem Bismarckdenkmal Versammlung für Völkerverbrüderung und Völkerverständigung ab. Die Zustimmung der Tausende, die uns hörten, bewies, dass unsere Ideen nun Gemeingut des Volkes sind. Das alte System ist begraben. Das neue ist in höchster Gefahr, wenn die Entente bei ihren vernichtenden Waffenstillstandsbedingungen beharrt. Wirket mit allen euch zu Gebote stehenden Mitteln für Milderung. Das freie deutsche Volk soll nicht für die Sünden seiner Bedrücker büßen. Bund Neues Vaterland.»

Ich habe diese Depesche sofort an geeignete Stellen weitergegeben.

Der Nationalrat von Deutsch-Österreich hat die Republik ausgerufen und einstimmig den Anschluss an die deutsche Republik beschlossen. So wäre ich denn auf meine alten Tage noch Reichsdeutscher geworden. Nehme diese Wandlung gern an. Eigentlich lag ja meine Tätigkeit immer im Reich. Und da das neue Deutschland kein verlängertes Preußen mehr ist, sondern eine Republik der Pazidemokratie, so liegt kein Grund mehr vor, «los von Deutschland!» zu rufen. Im Grunde unseres Wesens werden wir Deutsch-Österreicher ja doch immer Österreicher, immer Süddeutsche sein und bleiben, und der Zusammenschluss mit dem Gesamtvolk der Deutschen, von denen wir der Dynastie zuliebe ausgeschlossen waren, wird uns und dem übrigen Deutschland nur von Nutzen sein. Ich glaube sogar, dass wir Deutsch-Österreicher bei der Neugestaltung des deutschen Volksstaats infolge unsrer alten Kultur und bessern Haltung noch eine große Rolle zu spielen berufen sind. Ein alter Traum aller Deutschen geht damit in Erfüllung.

Im Frühling 1849 sang Georg Herwegh:

«Die Völker kommen und läuten Sturm — Erwache, mein Blum, erwache!

Vom Kölner Dom bis zum Stefansturm Wird brausen die Rache, die Rache.»

Kaiser Karl hat in einem wunderschönen Manifest den Deutsch-Österreichern freigegeben, ihre Staatsform und künftige Staatszugehörigkeit zu bestimmen. Er erklärt sein österreichisches Ministerium für aufgelöst. Lammaschs verspätete und so traurige Mission hat damit ein Ende erreicht. Hoffentlich nicht die jetzt so wichtige Wirksamkeit dieses ausgezeichneten Mannes.

Alle diese erfreulichen Entwicklungen werden doch durch den Gedanken an den furchtbaren Niedergang Deutschlands und Deutsch-Österreichs getrübt. Es war ein Krieg, den in seiner Furchtbarkeit die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat, ihm folgt ein Zusammenbruch, der in der Geschichte ebenfalls ohne Beispiel dasteht. Von solcher Höhe ist noch nie ein Volk hinuntergefallen. Eine solche Niederlage ist noch nie erlebt worden. Der mächtigste Staat des vergangenen halben Jahrhunderts ist zur völligen Ohnmacht verdammt, dem Belieben der Sieger unterworfen. Das mächtige, reiche Deutschland ein Land des Elends. Es wird Hallali geblasen. Genau so wie ich es seit Jahren vorhergesagt habe, genau so hat das verbrecherische Wirken der Militaristen das deutsche Volk zugrunde gerichtet.

Die deutschen Truppen haben Elsaß-Lothringen geräumt. Die Franzosen sind bereits in Kolmar und Mülhausen eingerückt. Übermorgen ziehen sie mit Gepränge in Straßburg ein. Die große Frage, die seit fast einem Jahrhundert die Welt erschütterte, deren Bestehen der bornierte deutsche Chauvinismus stets geleugnet hat, die Frage, die letzten Endes diesen ungeheuren Weltkrieg hervorrief, kommt nun zur Lösung. Wie lange ist es her, dass Kühlmann sein Niemals! Niemals! Niemals! in die Welt rief? Das war auch eine der großen Täuschungen dieser Kriegsperiode. Was niemand noch vor wenigen Wochen für möglich gehalten hätte, jetzt geschieht's. Und man fängt in Deutschland an, sich ganz ruhig damit abzufinden. Das deutsche Volk hat jetzt andere Sorgen. Wäre es nur früher nicht so betört worden, hätte man ihm nur nicht eingeredet, dass über diese Fragen gar nicht geredet werden dürfe, wäre nicht das Alldeutschtum mit seiner schmutzigen Arroganz wutschnaubend einem jeden an den Hals gefahren, der nur versucht hatte, diesen Konflikt, der ganz Europa durch die Last der Überrüstungen bedrückte, durch Ausgleich aus der Welt zu schaffen, Deutschland stünde heute anders da. Anders am Fanatismus musste dieses alte Deutschland zugrunde gehen. Wie leicht wäre es gewesen, diese Streitfrage beizulegen. Durch Abtretung eines Teiles wären die Franzosen zufrieden gewesen, und gern hätten sie noch ihre schönste Kolonie dafür gegeben. Später hätte es genügt, die Reichslande autonom zu machen. Noch im August 1914 schlug ich hier in diesem Buche die Verleihung der Autonomie als Rettung und Ausweg vor. Ich suchte nach einem Staatsmann, der zu dieser rettenden Tat fähig gewesen wäre. — Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Jetzt ziehen die deutschen Truppen unter dem Geschimpfe und Gejohle der Einwohner ab. Das ist der traurige Zusammenbruch der gesamten deutschen Säbelideologie, die sechs Jahrzehnte geherrscht hat.

In Paris fand gestern unter größter Glanzentfaltung das Fest zur Feier der Wiedererlangung der beiden Provinzen statt. Vor der seit 48 Jahren mit Trauerkränzen umgebenen Straßburgstatue stand die Rednertribüne. Ich beneide die Franzosen um dieses Erlebnis. Im Grund meines Herzens feiere ich mit ihnen. Man muss ein ganz bornierter Patriotarde sein, um den Sieg einer Idee, die Erfüllung einer schon fast verloren geglaubten Hoffnung nicht rein menschlich mitzuempfinden. Ich fühle mit ihnen, ein Schauer der Erregung durchzittert mich bei der bloßen Vorstellung dieses Erlebnisses. Wie mag es erst jenen ergehen, die mit dabei sein können! Ich bin nur von Trauer erfüllt darüber, dass soviel Blut fließen, soviel Glück vernichtet werden musste, um den Franzosen das nie vergessene Land wiederzugeben.