Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

18. Februar (Wien) 1915.

Ein Anblick geht nicht aus meinem Gedächtnis: jener grosse, schlanke Ulanenleutnant; ein Prachtmensch voll männlicher Schönheit und Jugend. Er schleppte sich auf zwei Krücken mit einem Bein. Das las man hundertmal. Gesehen habe ich’s jetzt zum erstenmal. Und dabei das ganze Entsetzen dieses grausamen Diplomatenspiels erkannt. Was ist die zerstörte Kathedrale von Reims gegen diesen einen verstümmelten Menschen!

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Naumann phantasiert in seiner letzten «Hilfe» von der «Masse», ihrer Grösse in diesem Krieg und ihre Anrechte auf politische Berücksichtigung in der Zukunft. Masse? Solange man die Menschheit von dieser Perspektive ansieht, täuscht man sich selbst und die andern. Es gibt keine Masse! Nur Einzelwesen. Und mein Ulanenleutnant mit dem einen Bein ist das unglückliche Opfer dieses Krieges, nicht die Masse der zehntausend gleichartig Betroffenen. Dieses eine Schicksal ist das herzzerreissende, nicht das Schicksal der Millionen, das wir nicht fassen können.

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Die deutsche Note an Amerika ist voll von Vorwürfen über das seitens England gebrochene Völkerrecht. Überhaupt wird der Bruch des Völkerrechts von allen Kriegführenden beklagt. Man übersieht nur, dass dabei immer nur von Kriegsreglementierungen die Rede ist und nie von der Friedensreglementierung. Und diese ist doch auch Völkerrecht. Warum macht niemand sich und den andern den Vorwurf, dass die von allen Nationen unterzeichneten Haager Bestimmungen für die friedliche Beilegung zwischenstaatlicher Konflikte schnöde gebrochen wurden? Das ist das wahre Völkerrecht, und darüber beklagt sich keiner der Kriegführenden. Man lasse uns denn auch in Ruhe mit der Klage, dass allseitig die Spielregeln des Kriegs nicht eingehalten werden. Der Krieg steht ausserhalb des Rechts, und wer ihn führt, stellt sich auf den Boden des Urzustandes.

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