Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

2. Oktober 1914.

Auf unsere Gefallenen-Liste ist auch noch die Bedeutung der Besuche der Staatsoberhäupter zu setzen. Wie oft haben sich die jetzt feindlichen Monarchen in den letzten Jahren besucht, dabei geküsst und umarmt; noch im Juni war der König von Sachsen am russischen Hofe. Wie sehr hat uns dabei die Presse einreden wollen, dass diese Höflichkeiten den Frieden bedeuten. Wenn irgend eine Friedenspolitik Bankrott erlitten hat, so ist es nicht die der Pazifisten, sondern die der Staatskanzleien, der heutigen Europa-Diplomatie, die das Friedensproblem als Paradetuch für festliche Gelegenheiten betrachtete.

Erfreut durch einen Artikel Walther Schückings in der «Christlichen Welt» (24. September), «Der Weltkrieg und der Pazifismus» betitelt. Fest und hoffnungsvoll. Sieht in den Ereignissen die Mahnungen der Pazifisten als berechtigt erwiesen. Vergleicht deren jetzige Lage mit der der Burschenschafter nach dem Wartburgfest, und unsere Stimmung mit jener der Männer der Paulskirche als Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte. Wenige Jahrzehnte darnach folgte die deutsche Einigung. Auch ich habe einmal die Haager Konferenzen mit dem Frankfurter Parlament verglichen. Weniger erfreulich ist Carl Hauptmann in seinem (I.) Brief, den er an seine amerikanischen Freunde («Berliner Tageblatt» Nr. 497, 30. September) geschrieben hat. Carl Hauptmann hat im Mai sein Stück «Der Krieg» herausgebracht, das nicht gerade eine Bekämpfung des Kriegs, wohl aber eine mächtige Schilderung des Grauenhaften und Dummen im Krieg war. Bertha von Suttners letzter Artikel galt diesem Werk. Jetzt urteilt er einseitig. Der Hass gegen England ist sein einziges Argument. Diesen begründet er mit Englands Haltung gegen Napoleon und der «Einkreisungspolitik» Eduard VII. «Krieg war nie unser Wille». Damit ist es leider nicht getan. Die Vorbeugung des Kriegs muss unser entschiedener Wille werden. Aber was mich am meisten unangenehm berührt, ist auch bei ihm die Betonung des Präventiv-Charakters dieses Krieges. Hier einige Sätze:

«Es ist keine Frage, der Mord von Serajewo, also ein schauriger Zufall, ist es gewesen, der die Kriegskugel ins Rollen brachte. Sonst wäre auch dieser Sommer noch unter dem Drucke hingegangen, den das europäische Leben durch die Einkreisungsmotive Englands tragen musste. Wir hätten den vom Neid Englands organisierten Krieg ein bis zwei Jahre später doch über uns nehmen müssen. Aber dem Schicksal sei Dank. Wir waren bereit. (Die andern doch auch, und gerade das legen wir ihnen als Verrat aus! A. H. F.) Und weil wir bereit waren, konnte der Kaiser mit dem Zaren eine wasserklare, eherne Sprache sprechen.

Für den Zaren war aus der ehernen Sprache unseres Kaisers, die eine völlige Unerschrockenheit zeigte, das Dilemma erwachsen, entweder schon vor seinem eigenen Bereitsein gleich auf der Stelle sich in den grossen Krieg einzulassen, oder die Führung der grosslawischen Bewegung, die eine allseitige, also auch westliche Richtung inne hat, auf lange Zeiten hinaus einzubüssen.

Ich vermute fast, dass der Zar jetzt noch gezaudert hätte.

. . . Nur hätte dabei der böse Feind im Westen nicht existieren müssen. Für den reichen Nabob England, der kein Volksheer, sondern nur Söldner für sich in den Kampf schickt, waren die schwerwiegensten Realien immer bereit.

Der englische Nabob. Dieser politische Heuchler! Dieser ,FriedensvermittIer`. Der längst Russland und Frankreich vorher zugeflüstert hatte, dass er (aus jenen spezifischen, unverantwortlichen Gründen) immer bereit wäre. Er warf jetzt sein Gold und seine Flotte in die Wagschale. So dass das peinliche Dilemma des Friedenszaren auch bald zugunsten des Krieges gelöst war.

Gut. Aber gerade diese englischen Machenschaften waren von unserem Kaiser und seinen verantwortlichen Ratgebern längst klar durchschaut. Deshalb haben wir nach dem letzten, tieferkenntlichen Zarenwort auch nicht erst auf Englands öffentliche Erklärung gewartet. Besser heute als 1916, wo Monsieur Poincaré und der Friedenszar auch noch bereit gewesen, jener aus Revanchegefühlen und dieser aus seiner unersättlichen Länder und Herrschergier, über uns herzufallen.

Ich sehe für uns Deutsche darin eine frohe Zuversicht, dass wir so wenigstens den Zeitpunkt des Krieges mit haben bestimmen können.»

Ja, mit diesen Argumenten wird Hauptmann seine amerikanischen Freunde nicht überzeugen können. Dieses «besser heute als 1916», diese Feststellung, dass wir den Zeitpunkt des Krieges haben mitbestimmen können, wird später, bis die Geister ruhiger geworden, noch zu vielen, gewiss nicht angenehmen Erörterungen Anlass geben!

Die Debatte über die Ursachen dieses Krieges schwelt schon heute unter der Oberfläche der Zeitereignisse, sie wird zur Flamme werden bis die Kriegsereignisse zur Ruhe gekommen sein werden. Lord Roseberry hat sich kürzlich in einer Rede mit dieser Frage befasst. Was er sagte, verdient hier festgehalten zu werden.

«Es werden einige Jahre vergehen, bevor wir die ganze heimliche Geschichte der Gründe dieses Krieges erkennen werden. Wir kennen die Ursache, warum Österreich Serbien den Krieg erklärt hat, wir wissen, dass Russland die Erklärung abgab, es müsse Serbien beistehen, und dass Frankreich wiederum sagte, es müsse Russland unterstützen. Es war gleichsam wie ein Funke in dem grossen Pulverturm, den Europas Nationen in den letzten 20 bis 30 Jahren erbaut hatten, wie ein Funke, der plötzlich in der fürchterlichen Pulverkammer Feuer fing, welche Europas Länder mit grossen Anstrengungen aufgeführt haben. Wenn man sich fortgesetzt gegeneinander bewaffnet, kommt schliesslich ein Zeitpunkt, in dem die Kanonen von selbst losgehen, oder, wie die Völker sagen: ,Wir können nicht mehr länger diese ungeheure Last von Ausgaben ertragen, wir machen am besten mit einem Schlage der Sache ein für allemal ein Ende.’ Dies ist absolut die wahre äussere Ursache zum Krieg. Ob die eine oder andere Persönlichkeit mit Überlegung diesen Krieg geplant hat, weiss ich nicht. Ohne sicheren Beweis würde ich es nicht wagen, eine solche Verantwortung auf eines Mannes Haupt zu legen, denn der F1uch der Menscheit würde ihm folgen, wenn dies wahr wäre.

Der Fluch der Menschheit ist gesprochen, wenn man auch heute noch nicht wissen kann, gegen wen er sich richtet. Vorläufig fällt er auf das System, das den Pulverturm errichtet hat.