Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 18. Januar.

Der Winter ist eingekehrt. Hoch liegt der Schnee, und das Schneien hört nicht auf. Alle Wandlungen der Witterung werden jetzt in ihrer Bedeutung für die Schützengräben gewertet. Wie werden es unsre Höhlenbewohner draussen ertragen? Der Gedanke schweift unaufhörlich zu ihnen. Schon seit einigen Tagen melden die Generalstabsberichte auf allen Seiten Stocken der Aktion infolge der Ungunst des schlechten Wetters. Nun wird der endgültige Übergang zum Winter die längst vorausgesehene Pause bringen, die den bisherigen Kriegsfortgang trennt von dem zum Frühjahr erwarteten Höhepunkt. Die Ruhe vor dem Generalsturm. Das abgenützte Wort der Kriegspropheten «nach der Schneeschmelze» erhält Wert. Wenn von den Vogesen und den Karpathen die Schneemassen zu Wasser werden, sollen dort die letzten Würfel über die Zukunft Europas fallen.

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Merkwürdig! Wir stehen noch mitten in dem unerhörtesten Krieg, den die Welt gesehen hat, und unsre Eisenfresser und Gewaltapostel sprechen schon vom nächsten Krieg. Das ist wohl der Höhepunkt kriegerischen Wahnsinns. Dem unentwegten Rohrbach, dessen Betätigung neben der des General Bernhardi viel zu wenig beachtet wird, blieb es (nach einer Notiz der «Arbeiterzeitung» vom 13. Januar) vorbehalten, Anfang 1915 vom «nächsten Krieg» zu sprechen. In einer Versammlung der Kolonialgesellschaft in Berlin hat er nach Berliner Blättern folgendes gesagt:

«Die grösste der Völkerwelten, die sich jetzt im Umbau befinden, ist China... Siegen wir gründlich jetzt - oder müssen wir noch einen zweiten Krieg führen, — so werden sich die Chinesen natürlich ebenso die Frage vorlegen, ob sie in Zukunft weiter bei den Besiegten in die Schule gehen sollen oder bei den Siegern. Darum müssen wir gründlich siegen, damit es sich den Chinesen zu ihrem eigenen Vorteil aufdrängt: Die besten Baumeister können wir doch von Deutschland beziehen! Demgegenüber tritt die Frage, ob wir Tsingtau wieder erhalten, erst in die zweite Linie. Es wird ja dann das Entscheidende sein, dass wir so in China stehen wie Amerika und England und nicht irgendwie ungünstiger. Wenn diese beiden auf Stützpunkte verzichten, können wir es auch, — sonst nicht. Erringen wir diese Gleichstellung in China nicht, so wäre der Krieg 1914/15 an einem entscheidenden Punkte missglückt. Wir wollen hoffen, dass wir alles dies erreichen; und sollte es nicht der Fall sein, dann — beim nächsten Mal sicher!

Also: mit Grazie und Krupp ad infinitum.

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Aus Frankreich kommt die Nachricht, dass sich die Regierung veranlasst sah, gegen Personen vorzugehen, die im Lande umherreisen und besonders bei den Frauen Propaganda für einen Friedensschluss machen. Es wurde angeordnet, solche Personen zu verhaften.

Als ich diese Mitteilung las, war ich überzeugt, dass daran anknüpfend auch in Deutschland ein Sturm gegen die Pazifisten und ihre «landesverräterische Agitation» losgehen werde. Leute, die für den Frieden eintreten, müssen unbedingt doch Pazifisten sein.

Sie sind es nicht!

Wir haben hier ein prachtvolles Schulbeispiel für eine von mir zuerst und seitdem so oft vergeblich hervorgehobene Unterscheidung zwischen Nicht-Krieg und Frieden. Jene Agitatoren in Frankreich wollen nur den Krieg beendigen, und wir Pazifisten wollen den Frieden sichern. Nicht bloss einen Friedensschluss, der einen Krieg abschliesst, sondern eine Neuordnung der Dinge, die Kriege — wenigstens in ihrem bisherigen Wesen — unmöglich macht.

Wir wollen nicht kurze Kriege, sondern die Vorbeugung von Kriegen überhaupt. Wir haben nur prophylaktisch zu wirken, nicht therapeutisch.

Ich wiederhole hier zum besseren Verständnis des Gesagten, was ich so oft geschrieben habe: «Wir sind keine Feuerwehr, die man ruft, um einen Brand zu löschen. Wir sind lediglich die Anpreiser eines Imprägnierungsmittels, das bei rechtzeitiger Anwendung den Brand verhüten kann.»

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Der Krieg hat die Erinnerung an Bertha von Suttner allenthalben lebendig erhalten. Sie gilt nun einmal im deutschen Sprachgebiet den weitesten Kreisen als Entfesslerin und Vertreterin des Friedensgedankens. Es war mir eine grosse Freude, in den Feldpostbriefen wiederholt auf ihren Weltroman Hinweise zu finden. Gewöhnlich der Art, dass es ganz so sei, wie Bertha von Suttner es beschrieben oder — dass es noch viel ärger sei. ln einer Rede, die (nach der «Sächsischen Staatszeitung» vom 12. Januar) der Oberkonsistorialrat Hofprediger Dr. Friedrich im Dresdner Gewerbeverein hielt, sagte dieser u. a.: «Offiziere hätten es bestätigt, dass die von Bertha von Suttner gezeichneten Bilder vom Krieg nicht im entferntesten an das heranreichten, was die Soldaten im jetzigen Völkerringen erleben müssen...» Hierzu wäre nur zu bemerken, dass Bertha von Suttner, als sie Ende der Achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ihren Roman schrieb und darin die Kriege von 1859, 1866 und 1870 schilderte, den modernen Krieg in seiner Wirkung noch nicht ahnen konnte. Dass sie aber später auch dessen Wirkungen erkannte und vorhersagte, namentlich, nachdem sie mit J. v. Bloch in Verbindung getreten war, geht aus ihren spätern Schriften hervor. Es sei nur beispielsweise an ihre letzte, 1913 erschienene, Schrift «Die Barbarisierung der Luft» erinnert. Ihre letzten Schriften sind allerdings — und zu Unrecht — weniger bekannt als ihr volkstümlich gewordener Roman «Die Waffen nieder!» Schon ihr oft angewendeter Ausspruch, dass ein Bad, dessen Wasser auf 100 Grad erhitzt ist, kein Bad mehr ist, sondern ein Siedekessel, zeigt, wie sie die Wirkungen des modernen Maschinenkriegs richtig aufgefasst hat.

Während sich aber die Krieger in den Schützengräben ihrer ehrfurchtsvoll erinnern, wird sie für eine andere Gruppe ihrer Landsleute zum Gegenstand eines liebenswürdigen Gespöttes. Ich meine die Wiener Feuilletonisten, deren süssliches Getändel bis jetzt noch nicht zu den Auswüchsen zu zählen scheint, von denen uns der Krieg als Wohltäter befreit hat. Ausser Tango, geschlitzten Kleidern, Afternoon-Teas hätte er uns auch das Wiener Feuilleton nehmen sollen, das uns die Welt in einer Optik schildert, die liebenswürdig aber unwahr ist.

Diese Wiener Feuilletonisten spielen jetzt mit Vorliebe in wenig pietätvoller Weise mit dem Andenken Bertha von Suttners, dabei zeigend, wie gering sie es vermögen, in den Kern ernster Probleme einzudringen. Raoul Auernheimer nannte sie kürzlich die «Friedensgrossmama» (Weihnachtsnummer 1914 der «Neuen Freien Presse»), und Arnold Höllriegel sagt in der «Zeit» (14.1.15.) «Die alte Frau von Suttner, die mit ihrer streitbaren Güte so ausserordentlich wenig Erfolg gehabt hat.» Nett; aber empörend! Wenn die Suttner Erfolg haben wollte, so wollte sie es nicht aus «Güte», sondern aus Verstand. Und vor allen Dingen dadurch, dass sie ihre Zeitgenossen vor einer Gefahr warnen wollte, die sie kommen sah. Wenn die Zeitgenossen nicht auf sie hörten, so sind sie es selbst, die jenen Misserfolg verschuldeten. Obenan die Wiener Feuilletonisten, die ihr breites Lesepublikum immer so betörten, dass sie der Stimme ernster Mahner kein Gehör schenken wollten. Nein, meine Herren vom «unterm Strich». Dieser Weltkrieg, mit dem ihr jetzt tändelt, ist kein Misserfolg der Suttner oder der Friedensbewegung, sondern deren blutig grauenhafte Rechtfertigung!

Am drolligsten nimmt sich aber das Produkt eines Wiener Schöngeistes aus, der zwar nicht als Feuilletonist zu werten ist, diesen aber geistig nahesteht. Der reiche Grossindustrielle Philipp Freiherr Haas von Teichen leistet sich im «Neuen Wiener Tagblatt» (13. Jan.) einen Artikel über «Die Friedensidee». Er hat Dramen geschrieben, die er vor geladenen Gästen aufführen liess, wobei er selbst als Schauspieler mitwirkte. Ein reicher Dilettant, der in dem Kreise seiner Wiener Freunde das Surrogat für einen Weltruhm findet, betrachtet er sich gewiss als den ersten Sachverständigen in den Dingen des Pazifismus. Sonst hätte er ja nicht das Bedürfnis in einer gelesenen Zeitung seine Ansichten darüber der Menschheit zu verkünden. Und was verkündet er? Er — er Philipp Freiherr Haas von Teichen, Inhaber der grossen Teppichfabrik Philipp Haas Söhne in Wien, er habe Recht gehabt, Bertha von Suttner Unrecht.

Und wieso? Er sagt der blutenden Welt von 1915, dass Bertha von Suttner ihn im Frühjahr 1899 eingeladen habe, sich an der Propaganda-Arbeit für die bevorstehende erste Haager Konferenz zu beteiligen. Damals habe er der Baronin einen Brief geschrieben, den er jetzt der Mitwelt zur Kenntnis gibt. Darin heisst es u. a.:

«Der Krieg ist nichts anderes als die Folge multiplizierten Selbsterhaltungstriebes (!) der Individuen im Staate. Wie sollte der Instinkt der Menschen aus der Welt geschafft werden? Alles fruchtloses Beginnen, vergebliche Mühe, verlorenes Geld, das für diese Frage verwendet wird ... Ich bin für den Frieden begeistert, kann mich aber für die Arbeit, den Krieg aus der Welt zu schaffen, nicht erwärmen, weil sie mir als eine absolut nutzlose erscheint, und deshalb bitte ich vielmals, mich zu entschuldigen, wenn ich von dieser meiner allerdings unmassgeblichen, für mich aber zwingenden Anschauung geleitet, für die Idee, den Krieg unmöglich zu machen, keine Geldopfer bringe.»

In der Nummer vom 12. Jan. des «Neuen Wiener Tagblatt» ist eine Spende von 9000 Kronen öffentlich bestätigt, die Freiherr von Haas für das Rote Kreuz gewidmet hat. Er, der vor 16 Jahren es ablehnte, für die Verhütung von Knochenbrüchen durch Krieg Geld zu geben, sieht sich also jetzt veranlasst, für deren Heilung eine namhafte Summe zu spenden. Und doch behauptet er — das ist der Tenor seines Artikels — dass er vor 16 Jahren Recht gehabt hätte, als er die Nutzlosigkeit aller Friedensbestrebungen vorhergesagt hat. Recht gehabt, weil seitdem viele Kriege stattgefunden haben, die er aufzählt (darunter auch einen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, der in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden hat!) und weil nun dieser Weltkrieg ausgebrochen ist. Wieder einmal der Beweis, dass jene Leute meinen, wir kämpften gegen den Krieg, weil wir ihn für überwunden wähnten, wieder ein Beweis, dass jene Leute glauben, eine Handvoll Menschen könne die Welt allein von dem Übel befreien, und dass sie nicht einsehen, dass die Mithilfe der breitesten Schichten notwendig ist, um jenes Übel überwinden zu können. Nicht mitgeholfen haben und dann den Andern den Vorwurf machen, dass sie nichts erreicht haben, ist nicht folgerichtig gedacht. Sie verkennen, dass sie die allein Schuldigen sind. Aber Baron Haas, der heute als Kluger triumphieren will und diesen Triumph in breiten Schichten sicher einheimsen wird, wodurch er uns, die wir die Dinge anders sehen, zu Trotteln stempelt, verkennt den Zusammenhang der Dinge. Er weiss nicht, was in andern Teilen der Erde durch die Mitarbeit der Gesamtheit wirklich schon erreicht ist, und er irrt sich, wenn er den Weltkrieg, der unsere Arbeit so grauenhaft rechtfertigt, als etwas andres betrachtet als sein eigenes Debakel und das seiner Gesinnungsgenossen.

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