Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

13. Februar (Wien) 1915.

Liebliches Wien. Teure Stätte der Gewohnheit, wo man die Menschen nicht erst durch die Sprache zu verstehen suchen muss, ihre Seele schon durch das Auge erkennt. Kein Wunder, dass das Heimatgefühl so mächtige Empfindungen auslöst. Wir sind Teile des Bodens, der unsre Jugend umgab. Vertrautheit und Gewohnheit bilden den Schlüssel zu all den auf Nationalismus und Patriotismus aufgebauten Problemen. Umso tiefer schmerzt mich der seelische Druck, der auf dieser Stadt lagert. Wie eine geliebte Frau, deren Züge von Leid sprechen, kommt mir dieses Wien im Krieg vor. Und wieder erfasst mich jenes tiefe Weh, das mir so oft seit den Julitagen 1914 mein Herz umschnürte. Ich finde starke Resignation, vermischt mit dem hier niemals überwindbaren Optimismus. Ehrliche Friedenssehnsucht.

Gestern abend auf belebter Kärntnerstrasse rief mir ein Kerl halblaut das Wort «Hochverräter» nach. Es war ein mir als desequilibriert bekannter Militärschriftsteller, der durch öffentliche Skandale schon oft von sich reden gemacht hat. Ein wahrscheinlich nicht normaler Mensch. Ich musste tun, als ob ich nicht gehört habe. Aber die Sache beschäftigt mich sehr. Ein Exzess auf der Kärntnerstrasse bei der jetzigen Stimmung wäre gefährlich gewesen. Der Gedanke an Schuhmeier und Jaurès zuckte durch meinen Kopf.

* * *