Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

21. September 1914.

Ein Vierteljahr seit Bertha v. Suttners Tod.

Die Schlacht im Westen scheint überhaupt ohne Ergebnis zu bleiben. Ich schliesse das aus folgendem: Gestern las ich, die Befestigung der deutschen Linien sollen uneinnehmbar sein. Heute lese ich, dass die Franzosen und Engländer in die Defensive getreten seien. Danach sind beide Gegner in der Defensive. Das heisst, sie haben sich gegenüber vergraben und warten nun beiderseitig günstige Gelegenheiten ab. Das kann man keine Schlacht mehr nennen. Eine solche hatte begonnen, nun ist sie aber, genau nach Bloch, im Sande verlaufen.

In Galizien gehen neue Gruppierungen vor. Man hört aber nichts Genaues.

Der Geisteszustand aller im Krieg befindlichen Völker ist nicht der selbe wie vorher. Ein Grund zur Hoffnung, dass er vielleicht auch nach dem Krieg sich rasch wieder ändern könnte. Es ist wahr: Alle Greueltaten geschehen in der Überzeugung, durch Greuel des Gegners herausgefordert und dazu berechtigt zu sein. Immer wieder kommt man zu dem Kern des Problems: Aller Greuel Ursache ist der Krieg. Und es ist folgerichtiger, den Krieg zu hassen, statt dass die kriegführenden Völker sich gegenseitig hassen.

Über die Stimmung in Amerika unterrichtet mich die mir regelmässig zugehende Wochenschrift: «The Independent», ein fortschrittliches, von einem Pazifisten (Hamilton Holt) redigiertes Blatt. Es ist erschreckend, daraus zu ersehen, wie wenig Sympathien man den Deutschen in Amerika entgegenbringt. Und das ist nicht mehr das ununterrichtete Amerika, denn die mir vorliegende Nummer (7. September) enthält einen Artikel des deutschen Botschafters Grafen Bernstorff, der sich redlich Mühe gibt, darin den deutschen Standpunkt begreiflich zu machen.

In dieser Nummer befindet sich ein Kabeltelegramm des an die Front gesandten Sonder-Berichterstatter des «Independent» aus Antwerpen, das über furchtbare Greuel der Deutschen berichtet. «Kinder und Greise sind mit dem Bajonett aufgespiesst worden» (!) Es wird den Deutschen vorgeworfen, dass sie die im Boxerkrieg gegen die wehrlosen Dörfer geübte Praxis auch in Belgien befolgen. Nach den Örtlichkeiten, auf die die Zeppelinbomben fielen, gehe hervor, dass die Absicht bestanden habe, die königliche Familie zu ermorden (!). — Der Berichterstatter ist Major Louis Livingstone Seaman.

Eine als Leitartikel erscheinende Rechtfertigung des Eintritts Englands in den Krieg, die sich auf das englische Weissbuch stützt, ist von grösstem Interesse.

Wie voreingenommen die Stimmung in Amerika ist, geht auch aus einer andern Stelle des angeführten Leitartikels hervor, die hier zur Kennzeichnung noch erwähnt werden soll.

«Keine Nation hat mehr getan, als England, den Grossen Krieg zu verhüten. Niemand als Sir Edward Grey hat mehr dafür getan. Wenn alle Kanzleien Europas von demselben Geist durchdrungen gewesen wären, wäre es nicht zum Kriege gekommen».

Die britisch - deutsche Verständigungsgesellschaft in London hat sich am 18. September aufgelöst. Das Vereinsvermögen wurde zu gleichen Teilen für notleidende Engländer in Deutschland und notleidende Deutsche in England verwendet. Diese Bestimmung lässt die Hoffnung offen, dass die Gesellschaft nach dem Krieg wieder aufleben wird. Doch, wer weiss!