Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 13. Januar.

Was ist Roheit? — Mit der Definition dieser jetzt so häufig hervorstrebenden Erscheinung habe ich mich so oft befasst. Alles, was uns als Roheitsakte erscheint, wird von den Begehern als Abwehr oder Ahndung irgend einer vorhergegangenen, gegen sie gerichteten Handlung erklärt. Damit scheint der Vorwurf der Roheit in sich zusammen zu brechen. Die abstossend erscheinende Handlung ist darnach nichts weiter als die durch ein vorhergegangenes Unrecht des Andern ausgelöste Reaktion. Nicht ich begehe die Roheit — so denkt der Verüber — sondern jener, der sich ins Unrecht gesetzt hat, und mich dadurch veranlasst hat, gegen ihn vorzugehen. Meine Tat muss im Zusammenhang mit ihrer Auslösung durch den Andern ins Auge gefasst werden. Sie fällt nicht mir, sondern jenem zur Last.

Dieser Gedankengang erschöpft das Wesen der Roheit nicht.

Das Kriterium liegt vor allem in dem Missverhältnis zwischen Ursache und Wirkung einer zur Gewaltmassnahme herausfordernden Handlung.

Der Rohling begnügt sich mit irgend einem Anlass, um seine dazu oft gar nicht im Verhältnis Abwehr oder Ahndung vorzunehmen. Jeder von aussen kommende Anlass gilt ihm als Rechtfertigung seiner eigenen Handlung, ohne Rücksicht auf die Disharmonie von Ursache und Wirkung. Dies kümmert ihn nicht, weil er sich der ihn absolvierenden Meinung hingibt, den Verüber des Anlasses treffe die Verantwortung für den vollen Umfang, für die volle Schwere der Gegenaktion. Oft ist es nur der Schein einer Berechtigung, der dem Rohling genügt, seine Gegenhandlung ohne Schranken auszuüben.

Ein Beispiel: Wenn ein Verhafteter sich durch die Flucht entzieht, ist der Gendarm berechtigt, von seiner Waffe Gebrauch zu machen. Der gefesselte Gefangene fängt in den Strassen einer belebten Stadt zu laufen an. Der Gendarm schiesst ihn nieder. Das ist Roheit; denn es ist die Ausnützung des Umstandes, dass einer sich ins Unrecht gesetzt hat, zu einer Gegentat, die zu dem Anlass nicht im Verhältnis steht. Der Gefangene hätte gar nicht entkommen können. Aber er hat einen geringfügigen Anlass gegeben, zu dessen Lasten der Wächter seine eigenen rohen Triebe zu setzen sich für befugt hält.

Nach dieser Definition kann man ermessen, wie viele Handlungen in diesem Kriege auf solche Weise zustande gekommen sind. Sie werden von den Einen als Roheiten denunziert, von den Andern als berechtigte Abwehr bezeichnet. Das Kriterium der Roheit liegt eben darin, dass wir dabei das Ebenmass zwischen Abwehr und Anlass vermissen. Es ist z. B. ein Roheitsakt, wenn einer füsiliert wurde, weil man in seiner Tasche das Legitimationsbuch eines Soldaten gefunden hat (ein Fall, der mir berichtet worden ist), das er im Stroh versteckt gefunden haben wollte. Solcher Handlungen, die in keinem Verhältnis zu ihrem Anlass standen, oder die überhaupt nur in einer Vermutung ihren Ursprung besassen, gab es zu Anfang dieses Krieges auf allen Seiten die Menge.

Als Beitrag zur Roheit der Gesinnung, die der Krieg begünstigt, diene nachfolgender Ausschnitt aus der «Deutschen Jägerzeitung», den ich der «Welt am Montag» (4. Januar 1915) entnehme. Da schildert ein angeblicher Offizier, der sich unter dem Namen «Hochwildjäger» versteckt, seine Kriegseindrücke. Nachdem er die Mobilmachung als das «lang Ersehnte, Erflehte und Erwünschte» bezeichnet, nimmt er zu den Feinden folgendermassen Stellung:

«Wir wollen Gewähr haben, dass die Kläffer hüben und drüben sobald nicht wieder wagen, uns anzufallen, dass sie sich winselnd und hinkend in ihre Hundehütten zurückziehen, wenn eine deutsche Faust an einen Degenkorb fasst. ,Nun aber wollen wir sie dreschen’ sagte unser Kaiser, als er die Mobilmachung befahl; das Kaiserwort ist wahr gemacht, wir haben sie gedroschen und sind auch schön warm dabei geworden; noch haben wir aber Lust und können und wollen weiterdreschen, weiterdreschen, dass die Schwarte knackt. Immer drauf und vorwärts. Keiner braucht es uns zu sagen, wir dreschen schon, nur hindern soll man uns nicht. Noch ist der Hauptkläffer mit ziemlich heiler Haut davongekommen, er soll, er muss auch noch seine Dresche besehen. Und wenn St. Hubertus es weiter gut mit mir meint, dann schickt er mich auch noch auf den vierten Kriegsschauplatz und lässt mich dreschen und schiessen, dass er seine Freude haben soll.»

Der Artikel schliesst mit dem Satz:

«Und das kann ich euch sagen, ihr Waidgenossen daheim, als ich den ersten Franzosen mit dem Karabiner niederschoss, da schoss ich so ruhig, als ob ich meinen Feisthirsch, der hoffentlich dafür heute noch lebt, vor mir gehabt hätte.»

Nach diesen Stilproben glauben wir (so schreibt die «Welt am Montag»), im Namen der sehr grossen Mehrheit der guten Deutschen zu sprechen, wenn wir den Wunsch äussern, dass nie wieder in einem deutschen Blatt der Krieg unter dem Gesichtspunkt der Jagd behandelt werden möge.

Das ist, wohl im Hinblick auf die Zensur, sehr milde ausgedrückt.

Die «Wiener Urania» hat die Konjunktur benutzt, Männer verschiedener religiöser Bekenntnisse zu Worte kommen zu lassen, um den Krieg in seinen ethischen und religiösen Wirkungen zu beleuchten! - Also, um die Jauche zu vergolden!

Mir liegt ein Bericht des «Neuen Wiener Tagblatt» vom 6. Januar über den Vortrag vor, den der sehr bekannte Benediktiner-Mönch Graf v. Galen im Rahmen dieser Vortragsreihe über «Der Krieg als Erzieher» hielt.

Der Krieg ist eine schreckliche Völkergeissel, so argumentiert der gräfliche Mönch. «Aber,» so führt er weiter aus, «wie ein Mensch niemals ganz und gar schlecht ist, so wenig ist es auch in allen seinen Folgen und all seinen Erscheinungen der Krieg. Gewiss wäre es schön, könnte man ihn auf ewig von dieser Erde bannen. Manche Idealisten hofften es zu können, aber, Verzeihung, wie stellte man sich das vor? Durch Verträge? Durch Schiedsgerichte, gestützt auf Treue und Glauben? Wohl, aber Treue und Glauben, wer sollte sie garantieren? Die Kultur. Auch diese Kultur, in deren glitzernden Falten sich das westliche Europa gefiel, hat sich als äusserst fadenscheinig erwiesen. Hätte der Krieg in moralischem Belangen keine andere Folge, als die falschen und oberflächlichen Begriffe von Kultur zu zerstören, wahrlich er hätte schon ein hochwichtiges Erziehungsmoment geschaffen. Mehr noch, wenn wir dann bei vorurteilsfreier Prüfung erkennen, dass die ewigen göttlichen Sittengesetze die allein unerschütterlichen Grundpfeiler wirklicher Herzensbildung sind. Der Krieg wirkt aber auch noch in manch anderer Hinsicht erzieherisch.

Zum Beispiel:
Der Krieg wird, so hoffe ich, auch in anderer Richtung erziehlich wirken. Er wird der kindischen Anglomanie mancher Kreise ebenso den Todesstoss versetzen wie dem unwürdigen Nachahmen französischer Moden, die der Ethik und der Ästhetik gleichmässig widersprechen. Möge es mit dem besonders bei uns Deutschen so gebräuchlichen kritiklosen Anstaunen und Wertschätzen des Fremden von jetzt an ein Ende haben! Mehr Selbstgefühl und Selbstachtung! Ein Volk, das solchen Krieg sieghaft besteht, bedarf keiner schwächlichen Anlehnung ans feindliche Ausland. Möge auch der übertriebene Luxus verschwinden, die einfache heimatliche Lebensführung zurückkehren, das Leben über die Verhältnisse aufhören.

Sollte man es glauben, dass der männermordende Krieg auch ein Erzieher zur Liebe werden könnte? Wir glauben es nicht, nein, wir sehen es täglich, wir greifen es mit Händen, wir leben und atmen in einer Atmosphäre der Liebe, die der Krieg geschaffen oder doch geweckt hat. Sie ist es, welche die Herzen aller Nationen entflammte in einigender Begeisterung für ihren Kaiser, für das gemeinsame herrliche Vaterland. Diese Liebe hat ihren Sonnenthron auch in unserer Mitte aufgerichtet. Keiner denkt mehr an sich selbst; der Allgemeinheit, allen Österreichern und Ungarn ohne Unterschied der Sprache und des Stammes, den Leidenden, Kranken, Verwundeten, Hungernden, Frierenden, Armen, Trauernden gehört jeder Gedanke, jedes Wort, jede Tat. Wie viel schlummernde Kräfte hat der erziehende Krieg da geweckt! Ja, es scheint, als wolle uns dieser eifernde Volkserzieher auch Wegweiser zu Gott werden. Das Wort des Heilandes von den Mühseligen und Beladenen ist niemals besser verstanden und befolgt worden als in unsern Tagen.»

Es ist dem wirklich nichts hinzuzufügen. — So verteidigt ein Diener der Religion der Liebe den Krieg.

Ich freue mich, dass mein Artikel «Die sittlichen Werte und die kulturelle Bedeutung der Cholera», worin ich nachwies, dass die Seuchen dieselben Vorteile zeitigen können, die man gemeinhin dem Krieg zuschreibt, nunmehr in mehreren Sprachen erscheinen wird. Er dürfte geeignet sein, viele über den Irrtum dieser Kriegspreiser aufzuklären.