Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 25. September.

Eine neue Phase des Weltkriegs. Die deutsche und österreichische Offensive an der serbischen Front, die Mobilisierung Bulgariens und dessen Anschluss an die Zentralmächte. Der seit Monaten brodelnde Kessel des Balkans droht überzulaufen. Nun soll auch bereits Griechenland mobilisiert haben. Die politische Erregung hat einen hohen Grad erreicht. Immer verwickelter, immer blutiger wird das Ringen. Und immer endloser. Die Hoffnung, dass das deutsche Vordringen in Russland den Krieg seinem Ende näher bringt, verraucht. Ebenso die Hoffnung, dass dies der amerikanisch-deutsche Ausgleich bewirken könnte. Jetzt liegt der Schwerpunkt am Balkan; muss erst diese Verwicklung gelöst werden. Wenn nur die Lösung die Verwicklung nicht noch grösser macht! Immer wieder drängt sich die Frage auf: Hätte man diesen Krieg begonnen, wenn man gewusst hätte, welchen Umfang er annehmen wird? Und wie konnte man es wagen, ein solches Unternehmen zu beginnen, wenn man sich über dessen Tragweite so wenig im klaren war? Warum wurde Bismarcks Weisheit nicht mehr gewürdigt, die in dem heute so eindringlich wahr erscheinenden Satz ausgedrückt ist, der ungefähr so lautet: Man weiss immer wo ein Krieg beginnt, doch nie wo er aufhört. — Warum hat man die pazifistische Lehre von der Komplizität aller politischen Aktionen nicht mehr beachtet? Die Zusammenhänge der Welt, die wir erkannt haben, und woraus wir die Notwendigkeit einer Friedensorganisation herleiteten, erweisen sich hier in ihrer unglücklichsten Art. Rechtzeitig von den Regierenden erkannt, hätte diese Erkenntnis zum Heil Europas führen können. Das Versäumnis rächt sich durch Unheil. — Wird es aber wenigstens nachher anerkannt werden? —

Die dritte deutsche Kriegsanleihe ergab 12 Milliarden Mark. Eine achtunggebietende Leistung. Aber noch viel grösser als meine Achtung davor ist mein Schmerz darüber. Der zehnte Teil solcher Kraft für Werke der Kultur verwendet, hätte die Erde zu einem Paradies verwandelt. So wird die Leistung Generationen den Fluch des Unverstandes unserer Zeit aufbürden. Es ist ein schlechter Trost, der jetzt in Form einer Notiz die Runde durch die Presse macht, von einem Amerikaner, der 500 000 Mark für die dritte deutsche Kriegsanleihe gezeichnet hat. Dieser erklärt seinen Schritt in folgender Weise:

«Bei Beginn der Feindseligkeiten hatte Deutschland eine Nationalschuld von etwa acht Milliarden. Seitdem wuchs diese Schuld um den Betrag der ersten und zweiten Kriegsanleihe, also um 13 1/2 Milliarden. Hiezu kommt die jetzige dritte Kriegsanleihe, also etwa zehn Milliarden, wenn nun eine eventuelle vierte Anleihe noch zehn Milliarden ergibt und dann noch einmal sieben Milliarden hinzukommen, wird Deutschland, soweit seine auf den Kopf der Bevölkerung berechnete Nationalschuld in Frage kommt, gerade so stehen, wie Frankreich vor Kriegsbeginn stand, und eine 5 %ige Reichsobligation vor dem Krieg war wenigstens 110 wert».

Das mag finanztechnisch richtig sein, volkswirtschaftlich ist es falsch. Der einzelne Staatsgläubiger wird sich bei dieser Kapitalsanlage vielleicht ganz gut stehen, aber der Schuldnerstaat wird schwere Lasten dem Volk auferlegen müssen. Die Not Frankreichs kann keine Tugend Deutschlands sein. Bis 1877 war das Deutsche Reich überhaupt schuldenfrei. Das ermöglichte seinen grossen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Lebenshaltung des Volkes war in Deutschland bedeutend besser als in Frankreich. Man vergleiche nur die deutsche Wohnungskultur mit der französischen, wo enge und beschränkte Räume ohne jeden Komfort die Norm bilden. Arbeiterstand und Mittelklassen lebten vor dem Krieg in Frankreich ungleich schlechter als in Deutschland. Und das soll unser Trost sein? — Nein, wir lassen uns durch dieses lustige Rechenexempel nicht betören. Wir erkennen es in seiner brutalen Leichtfertigkeit und werden nicht aufhören, zu fragen, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, den Streit um die Befugnisse österreichischer Beamter bei einem serbischen Gerichtsverfahren auf billigerem Wege auszutragen. Mögen diejenigen, die sich allein für Patrioten halten, über diese Frage ausser sich geraten; der Tag wird kommen, wo die Millionen uns zustimmen werden.

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Freunde schicken mir die Schillingausgabe einer englischen Übersetzung von Bertha v. Suttners Roman «Die Waffen nieder» «Disarm!» lautet die Übersetzung. Auf dem Umschlag sieht man einen deutschen Soldaten mit Totenkopf, oder den Tod in preussischer Uniform. Im Hintergrund eine brennende Stadt. Den Gipfel aber bildet die Überschrift: «The most famous war novel of modern times showing Germanys Ruthless Hand in France, Austria and Denmark». Die drei fett gedruckten Worte sind rot gedruckt. Gegen diese Unverschämtheit muss im Namen unserer grossen Toten protestiert werden. So hat sie ihr Buch nicht aufgefasst, als eine Tendenzschrift gegen Deutschland. Es war von ihr als Tendenzschrift gegen den Krieg gedacht. Nur die Unverschämtheit eines auf die Masseninstinkte spekulierenden Buchhändlers vermag eine solche Verdrehung vorzunehmen. Das ist übrigens nicht widerlicher als die Binde um das Buch des Vlamen Coester, «Till Eulenspiegel», das ich gestern in einem Buchladen gesehen habe, mit der buchhändlerischen Empfehlung für dieses «Meisterwerk aus wiedergewonnenen deutschen Landen». Dieser alldeutsche Grössenwahn ist nicht weniger empörend als der bestialische Deutschenhass. Aber: Geschäft ist Geschäft. Das ist der Geheimschlüssel zum Begreifen des Unbegreiflichen, auch zum Verstehen des Kriegswahns.