Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 16. Dezember.

Zu Beginn dieser Aufzeichnungen habe ich wiederholt dem Gedanken Ausdruck verliehen, dass das Wünschenswerteste ein rascher und billiger Friedensschluss der Zentralmächte mit den Westmächten wäre, um dann mit den vereinten Kräften der Kulturstaaten gegen das Zarenreich vorgehen zu können. Das wäre ein Krieg, den selbst der Pazifismus begreifen würde. Nun scheint aber die Entwicklung der Dinge einzelne Kreise in Deutschland gerade in eine umgekehrte Richtung zu führen, nämlich zu dem Wunsch, mit Russland ehestens zu einem Separatfrieden zu gelangen, um dann mit vereinten Kräften gegen die Staaten des Westens, die vereinten konservativen Mächte gegen die westeuropäische Demokratie vorzugehen.

Der Gedanke ist höllisch, darum aber nicht so unmöglich, wie Th. Wolff es in seinem Leitartikel vom 14. d. M. (Berl. Tageblatt) darzulegen sucht. Zu leicht könnte sich doch im zarischen Russland die Erkenntnis Bahn brechen, dass eine Niederlage der beiden Monarchien auch eine Niederlage des Zarismus bedeuten würde, und dies könnte dort zu einer Umkehr in der Politik führen. Eine von dieser Seite kommende Hilfe Deutschlands und Österreich-Ungarns wäre aber auf das höchste zu bedauern. Mit Russland vereint würden Deutschland und Österreich-Ungarn auf ein Jahrhundert der Hort der Reaktion sein. Die Weissagung Napoleons würde sich erfüllen; jedoch nicht nach der sympathischen Seite. Europa würde — wenigstens zur Hälfte — kosakisch werden.

Das Streben gewisser deutscher Schichten, den Krieg mit Russland zu Ende zu bringen, ist vielleicht schwer zu erfüllen; denn Russland würde seine Ansprüche nicht aufgeben wollen. Aber eine Gefahr bleibt es doch.

Wenn dieser Weltkrieg eine solche Lösung finden sollte, wird das deutsche Volk für seine imponierende Einmütigkeit, die hauptsächlich durch das gegen Russland gerichtete Kampfziel hervorgerufen wurde, arg getäuscht werden.

Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt.

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Eine gestern aus Nisch verbreitete Meldung, dass Belgrad von den Serben wieder besetzt worden sei, wird heute auch aus Wien bestätigt.

Das ist nach dem grossen Trara, das man bei der an sich unwichtigen Tatsache der Besetzung Belgrads angeschlagen hat, ein schmerzliches Eingeständnis. Belgrad war ein Trümmerhaufen und keineswegs die serbische Hauptstadt, als man es kampflos besetzte. Hätte man die Besetzung nicht in so masslos übertriebener Weise dargestellt («Die Wogen der Begeisterung» sollen in Wien sehr hoch gegangen sein, als die Nachricht eintraf. Benedikt brachte über das Ereignis in einer einzigen Nummer nicht weniger als sieben Artikel!), brauchte man sich jetzt über die so schnell wieder erfolgte Räumung nicht zu grämen. Wir haben an Belgrad wirklich nichts verloren; hatten aber bei der Besetzung auch nichts dabei gewonnen. Der Aufputz — die mise-en-scène — machte es erst zu einer Tat.