Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Spiez, 13. August.

In Wien kostet jetzt ein Paar Lederschuhe 600 Kr., ein Kilo Schinken 150 Kr. (Arbeiter-Zeitung vom 9. August). Dass Menschen verhungert auf der Straße oder in ihren ärmlichen Wohnungen aufgefunden werden, ist keine Seltenheit. Man stirbt am Nahrungsmangel, man mordet und stiehlt, und nur eine dünne Schicht am Milliardenraub Beteiligter vermag sich noch zu erhalten

Da schreibt die «Neue Freie Presse» und das offizielle Wiener Korrespondenz-Bureau telegraphiert es (unterm 10. August) ins neutrale Ausland.

«Die Mittelmächte werden die amerikanischen Millionen überstehen, wie sie die russischen Millionen überstanden haben. Dann wird der Friede reif werden».

Dann? — Aber zur Überwindung der Russen hat man dreieinhalb Jahre gebraucht. Glaubt die «Neue Freie Presse», die Amerikaner in kürzerer Frist «überstehen» zu können? Kaum möglich, wenn überhaupt möglich. Das Blatt glaubt also, dass Österreich noch dreieinhalb Jahre Krieg aushalten könne. Wenn dann erst der Friede «reif» sein soll, dann ist das Volk in der Donaumonarchie verfault.

Schlägt Paul Rohrbach das Gewissen? ln der Zeitschrift «Deutsche Politik» macht er (nach Berl. Tagbl., 11. August 1918) Mitteilung von einer im September 1917 der Regierung überreichten Denkschrift, worin er auf die Gefahr der alldeutschen Literatur hinweist, deren Verbreitung im Ausland er als viele verlorne Schlachten und Feldzüge bezeichnet. Er legt dar, dass die Reden und Schriften der Alldeutschen während der letzten anderthalb Jahrzehnte vor dem Krieg und während des Kriegs die Grundlage aller Verdächtigungen Deutschlands und seiner Weltfeindschaft bilden. Er fordert die Regierung auf, «die moralische Offensive» aufzunehmen, «oder wir werden den Krieg verlieren».

Diese Denkschrift ist vom September 1917. Die Regierung hat in Brest-Litowsk bewiesen, dass sie den Mahnruf Rohrbachs nicht verstand. Ob Rohrbach, der Präventivkriegapostel (sieh meine Eintragungen vom 5. September 1914), der Verkünder des «nächsten Krieges» (sich meine Eintragungen vom 18. Januar 1915) der geeignete Mann war, gegen die Gefahren der alldeutschen Literatur aufzutreten, erscheint mir fraglich.

Ein Geschwader von sechs italienischen Flugzeugen, von Gabriele d’Annunzio geführt, warf am 9. August über Wien Zettel ab. Zettel mit einem witzigen Aufruf an die Bevölkerung; keine Bomben. Die Zettel fordern die Bevölkerung auf, den Krieg nicht fortzuführen. Kriegerischer Blödsinn. Das heißt den Wagen auffordern, sich vom Pferd nicht ziehen zu lassen. Die Bevölkerung ist im Krieg kein Willensfaktor. Schmerzlich berührt der Satz:

«Man sagt von euch, dass ihr intelligent seid, jedoch seitdem ihr die preußische Uniform angezogen habt, seid ihr auf das Niveau eines Berliner Grobians herabgesunken, und die ganze Welt hat sich gegen euch gewendet.»

Schmerzlich!