Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

27. August 1914.

Die Reise nach Berlin habe ich aufgegeben, nachdem ich mich bereits telegraphisch angemeldet hatte. Ich fühlte mich zu nervenschwach, um eine unbequeme Nachtfahrt von 16 stündiger Dauer ertragen zu können. Dann fürchtete ich den chauvinistischen Lärm in Deutschland. Ich lese gerade Anatole France: La révolte des Anges. Ernste Bedenken stiegen mir auf, ob ich diesen Band als Reiselektüre zu einer Fahrt nach Deutschland mitnehmen darf. Der Gedanke, dass es möglich sei, wegen Lektüre eines französischen Buches, wegen der Lektüre von Anatole France, Unannehmlichkeiten haben zu können, empörte mich derart, dass ich mich entschied, nicht zu reisen. Das physische Unbehagen hätte ich überwunden, das moralische nicht. Ich telegraphierte Mead ab. Aber heute morgen bekam ich schon wieder eine Depesche von ihm mit erneuter Aufforderung.

Gestern wurde der Sieg der Österreicher bei Krasnik gemeldet. «Die dreitägige Schlacht bei Krasnik endete gestern mit einem völligen Siege unserer Truppe. Die Russen wurden auf der ganzen etwa 70 Kilometer breiten Front geworfen und haben fluchtartig den Rückzug gegen Lublin angetreten».

Dreitägige Schlacht; also ein heisses Ringen. Man sah einige Flaggen in der Stadt. Von einem Jubel und einer Begeisterung, von der die Blätter heute berichten, war nichts zu merken. Im Gegenteil, die Hurrastimmung der ersten Tage ist längst verflogen. Um Begeisterung auszulösen, war die Meldung zu summarisch. Ein Rückzug ist noch keine Niederlage. Man wäre auch neugierig, die Rechnung kennen zu lernen: wieviel wir in diesen drei Tagen an Menschen geopfert haben, um diesen Rückzug zu erzielen.

Daran denken die Siegesgestimmten nie. — Ein Satz aus Hedwig Pöttings Brief kommt mir dabei immer in den Sinn: «Ich beneide jetzt die grosse Masse, die nicht pazifistisch denkt, die sind nicht so gemartert wie wir». Und ich greife — was ich lange nicht getan — zu Schiller und lese «Kassandra»:


«....................

Ich allein muss einsam trauern,

Denn mich flieht der süsse Wahn,

Und geflügelt diesen Mauern

Seh’ ich das Verderben nah’n».


Aber Lust und Freude kann ich bei allen Siegesnachrichten nicht empfinden, denn ich sehe die Opfer, die diese Siege kosten und fühle den Schmerz mit, den die andern erleiden, die besiegt werden. Ich kann mich zu dieser allgemeinen Verachtung der andern nicht aufschwingen — oder hinabsenken —, die dieses Mitgefühl für die Besiegten erstickt. Auch bei ihnen sehe ich nichts Verwerfliches. Auch sie werden in ihrem Kampf von Motiven bewegt, die ihnen richtig erscheinen, auch sie sind in ihrer Masse arme Teufel, die, ohne es zu wollen, jetzt in Tod und Verderben geschickt werden. Auf beiden Seiten sehe ich dieselben bekümmerten Familien, dieselben zerstörten Hoffnungen, dieselben geknickten Menschenleben, die vor wenigen Monaten noch glückhungrig und hoffnungsreich in die Zukunft sahen. Auch «die Serben», «die Franzosen,» «die Russen,» «die Engländer,» «die Belgier» sind keine Bestien, sondern um ihr Leben und ihr Recht auf Glück Betrogene. Erst die Optik des Krieges lässt sie als Bestien, als Perfide erscheinen. Ich kann auch nicht annehmen, dass wir in den Augen der Andern im andern Licht erscheinen. Und all diese verbrecherischen Irrungen und Täuschungen erzeugt der Krieg. Er ist der Feind des Menschengeschlechtes, ihm muss der Kampf aller Kräfte der Menschheit gelten. Jetzt mehr noch als früher.

Wie sich dieser Kampf in der Zukunft gestalten wird, ist noch nicht klar. Aber bestehen wird er, geführt wird er werden. Und je grösserem Widerstande er begegnen wird, umso notwendiger wird er sein. In den siegreichen Ländern wird er sicherlich schwer zu kämpfen haben. Denn der augenblickliche Erfolg wird die Opfer verschmerzen lassen und wird den trügerischen Schein erwecken, als ob der Krieg Gutes brächte, als ob nur im Schwert das Heil läge. Aber es wird doch der Boden bereitet sein für ein grösseres Verständnis für unsere Arbeit, namentlich wenn sie allenthalben von der «ewigen Friedens»-Duselei auf die Plattform der modernen Friedenstechnik gebracht werden wird. Kampf für immer, eventuell auch bewaffneter, aber immer nur im Dienste der Kultur gegen die Barbarei. Aber niemals Krieg als Selbstzweck. Ein Kulturbund wird jedoch der Gewalt gegen die Unkultur gar nicht mehr bedürfen. Sein Dasein wird genügen, um zu bezwingen.

Aber ich baue — wie immer — auf die Logik der Dinge. Auch dieser entsetzliche Krieg wird die Menschheit vorwärts bringen müssen. Er wird eine Situation schaffen, die vielleicht den Chauvinismus erhöht, die Verblendung der Menschen vertieft, die aber dennoch einen gewaltsamen Zwang zur Festigung der Völkerorganisation mit sich bringen wird und ein erhöhtes Verantwortlichkeitsgefühl derjenigen, die die Entscheidung über Krieg und Frieden in der Hand haben. Die Leichen der Erschlagenen, die Trümmer des Besitzes werden besser predigen als unsere Schriften und Worte es getan. Dieser pazifistische Anschauungsunterricht, der jetzt in ganz Europa erteilt wird, kann nicht versagen.

Heute wissen die Völker Europas nicht, um was sie sich schlagen. Den Urhebern des Krieges dürfte schon längst vor ihren Motiven bange geworden sein. Um den Erzherzog Thronfolger zu rächen, kann man den Tod von Hunderttausenden in den verschiedenen Ländern, die Wirtschaftskrise in der ganzen Welt, den Zerfall von Milliardenwerten nicht mehr rechtfertigen. Man erfindet neue Motive: Panslawistische Expansionslust, Neid der Völker gegen Deutschlands Aufschwung, Notwendigkeit eines Beweises der Lebenskraft der österreichisch-ungarischen Monarchie usw. Man vergisst nur, dass alle diese Motive seit Jahrzehnten bestanden und dennoch den Frieden der Nationen nicht gestört haben, dass ihnen kriegserzeugende Kraft demnach gar nicht innegewohnt hat. Wenn jetzt der Krieg um jener Erscheinungen willen geführt wird, so ist er nicht ihretwegen entstanden. Er wurde berechnet losgelöst, um nachträglich aus jenen Erscheinungen begründet zu werden. Diese Verkleidung von Ursache und Wirkung ist das Verbrecherische. Der Krieg wird nicht geführt, um den Tod des ermordeten Erzherzogs zu rächen, aber auch nicht, um die Neider Deutschlands zurückzuweisen, um den Panslawismus zu ersticken, um Österreichs Lebenskraft zu beweisen, sondern lediglich, weil die Militärs der beiden Zentralmächte einen günstigen Augenblick ihrer technischen Überlegenheit heraus gerechnet haben. Dass ihnen dabei die Kriegsspekulation der russischen Militärpartei willkommen in die Hände gearbeitet hat, ist sicher. Es handelt sich also um einen Präventivkrieg, jene verwerflichste Form des Krieges, vor der sogar Bismarck gewarnt hat.