Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 12. Januar.

Wenn ich eine zeitlang mit meinen Eintragungen pausiert habe, erkenne ich erst, wie wenig ich von den Ereignissen und Äusserungen der Zeit hier festhalten kann. Eine Meereswoge von Geschehnissen ist in diesen wenigen Tagen der Pause über mich hereingebrochen, ohne hier nur andeutungsweise registriert zu werden. Sei’s! Ich kann eben hier nicht die Geschichte dieser Zeit, ihrer Widersprüche, ihres Elends, ihres Wahns bieten. Nur ein kleines Segment davon. Mehr soll dieses Tagebuch nicht enthalten.

Es wird immer fürchterlicher. — Der Wahn wird deutlicher, anschaulicher. Die Stimmen über das Grauenhafte mehren sich. Trotz aller Beschönigungen und Stimmungsmachereien tritt das Furchtbare immer deutlicher zutage. Das wird nicht mehr als Krieg zu bezeichnen sein, was da vorgeht. Ein neuer Name wird für diese unerhörte, noch nie Ereignis gewordene Erscheinung gefunden werden müssen. Das ist nicht mehr Krieg, nicht mehr der bewaffnete Konflikt mit Anfang, Höhepunkt und Überwindung. Das ist ein Menschheitsbeben, eine Weltepilepsie, ein Kulturkrampf. Was wird von allem, das uns lieb und teuer erschien, das uns das Leben lebenswert machte, übrig bleiben, wenn der Krampf zu Ende sein wird? Ein Leichenhaufen, ein Trümmerhaufen, ein Irrenhaus!

Dieses sich vom reichlich fallenden Aase nährende Gewürm der Schmeichler und Preiser, der Vergolder von Totengerippen wird täglich stärker und zahlreicher. Ohne Widerspruch zu finden, erreichen sie einen Grad von Dreistigkeit, der jeden noch immun Gebliebenen erzittern macht. Die zertrümmerten Mauern, Häuser, Brücken, Maschinen sind nicht das Ärgste dieses Menschheitskrampfes. Die vergifteten Anschauungen, Meinungen, Äusserungen sind es. Es gibt schliesslich kein normales Gehirn mehr in den vom Unglück heimgesuchten Ländern. Was nützt die Arbeit der Jahrtausende, wenn nunmehr Wahnsinnige berufen sein sollen, sie in Besitz zu nehmen, sie fortzuführen.

Die Macher dieses Krieges erschrecken ja selbst vor dessen Wirkungen. Das merkt man an ihrem Bestreben, dem Ereignis einen seinem Umfang entsprechenden Grund anzudichten. Ursprünglich war es das Verlangen Österreich-Ungarns, an einer Untersuchung über die Beteiligung des offiziellen Serbiens bei der Verschwörung gegen den österreichischen Thronfolger, österreichisch-ungarische Beamte teilnehmen zu lassen und die Weigerung Serbiens, dieses Verlangen zu erfüllen. Dass darum die Erde aus Millionen Wunden blutet, erscheint den Kriegsgläubigen selbst zu gering. Man erfindet höhere Gründe: Weltnotwendigkeiten, Völkerschicksale und anderes. Aber das ist alles hineingelegt, ist nicht der wahre Grund. Ein Moment der Besinnung, ein kluger Wille und die Erde wäre schön, Millionen wären in ihren Hoffnungen nicht getäuscht, der Wahnkrampf wäre nicht über die Menschheit gekommen. Und das denken zu müssen, ist fürchterlich. Man sehnt sich ordentlich nach Umnachtung des Geistes, nach Trübung des Denkens, als dem einzigen Schutz gegen das grosse Weh. —