Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

8. Mai (Lugano).

Eben lese ich die Entsetzensnachricht von der Versenkung der «Lusitania». Das Riesenschiff mit 1798 Menschen versenkt. Ein Teil, vielleicht Alle, dürften gerettet sein. Darüber fehlen noch die Nachrichten, doch wird mitgeteilt, dass sich zwanzig Schiffe in der Nähe befanden. Aber gleichzeitig auch, dass der Schiffskoloss in 20 Minuten unterging. Kaum möglich, dass alle gerettet wurden.

Es ist fürchterlich, wohin dieser Krieg treibt! Das Entsetzen wird so allgemein sein, dass die moralische Einkreisung Deutschlands jetzt für lange Zeit vollzogen sein dürfte. Man wird sich rechtfertigen. Zunächst damit, dass man in New-Yorker Blättern öffentlich von der Benützung der «Lusitania» gewarnt habe. Es fahre jeder auf seine eigne Gefahr. Ich las diese Anzeige, die die italienischen Blätter als Telegramm veröffentlichten, und legte ihr keine Bedeutung bei. Wer hätte dies auch für möglich gehalten! Als weitere Rechtfertigung wird die amerikanische Waffenlieferung herhalten müssen. Ich höre schon die unentwegten Rechtsbolde, die just im Krieg auf Ordnung und Gerechtigkeit pochen, sonst aber ihr ganzes Leben der Aufrechterhaltung und Förderung der Anarchie widmeten, wie sie sich befriedigt zeigen werden mit dieser Vergeltung. Amerika liefert, werden sie sagen, die Geschosse zur Tötung unsrer Soldaten, wir haben ein Recht dazu, dies zu verhindern, indem wir die von drüben kommenden Schiffe torpillieren. Wenn auch friedliche Bürger dabei jämmerlich zugrunde gehen. Blutrache! Das bedeutet den Krieg mit den Vereinigten Staaten. Wenn auch nicht den erklärten Krieg, so doch den wirtschaftlichen und moralischen, der noch schlimmer ist, weil er kein Ende findet.

Zahlenmässig ist das Ereignis nicht fürchterlicher als alle die andern, die wir jetzt täglich erleben bei diesem ununterbrochenen Eisenbahnzusammenstoss. Wieviele Schiffe sind in dieser höllischen Kampagne mit Mann und Maus versenkt worden? Wieviel Menschen gehen täglich zugrunde, deren Anzahl die der Toten der «Lusitania» übersteigt. Und doch! Diese Vernichtung wirkt anschaulicher als der sonstige Mord und wird daher in seiner Wirkung fürchterlicher sein. Fürchterlich! Die Verachtung und die Wut wird ins Grenzenlose steigen, und man wird sich schämen müssen, ein Deutscher zu sein. Die öffentliche Meinung der Welt wird nicht nach den Rechtsgründen fragen, die man sich zurecht gelegt hat, sie wird sich von der Wirkung fortreissen lassen. Jetzt ist die Koalition der Welt gegen Deutschland fertig. Das deutsche Volk wird diesen Hass teuer bezahlen müssen und bitter zu spüren bekommen. Hier wird eben der grosse Kontrast seine psychische Einwirkung nicht verfehlen, der sich aus der Kulturbedeutung eines solchen Riesenschiffes ergibt, aus der Unschuld seiner Passagiere und dem raschen, gewaltsam herbeigeführten Ende. Das war ja auch die Ursache des grossen Schreckensschreis, der nach dem Untergang der «Titanic» die ganze Welt erfüllte. Damals war es ein toter Eisberg, heute menschlicher Wille.

Nur so weiter! Nur zu! Ihr erschlagt den Krieg und wisst es nicht einmal!

Die Versenkung der «Lusitania» wird uns als eine notwendige Gegenmassregel dargestellt werden. Sie wird aber weitere Gegenmassnahmen hervorrufen. So wird eine Schreckenstat auf die andre getürmt werden bis zur völligen Vernichtung unsrer Kultur, und jeder wird meinen, durch das Vorhergegangene im Recht zu sein. Und so werden wir zurückgeführt zu dem Anfang dieses Zustandes, auf die Entfesselung des Kriegs. Derjenige oder diejenigen, die den Krieg nicht verhindert haben, auf deren Rechnung wird alles Blut gehäuft werden. Sie sind die Mörder, die Vernichter, die Zerstörer Europas. Ich sehe mit Bangen in die Zukunft.

* * *

Eine betrübende Entwicklung hat durch den Krieg die Zeitschrift «Der Türmer» durchgemacht. Dieses Blatt, das früher zu unsern Mitkämpfern gezählt werden konnte, ergeht sich jetzt in Wut und Spott gegen unsre Arbeit. In der Mainummer erregt es sich über den in Nr. 1 der «Blätter f. zw. Org.» erschienenen Artikel des Engländers W., der bekanntlich in äusserst deutschfreundlichem Sinn den Weg zur Beendigung des Kriegs zu zeigen suchte. Deutschland soll erklären, dass es den seiner Meinung nach verübten Überfall abgewiesen habe und möge von den Alliierten die Bedingungen verlangen, die ihm seinen Besitzstand für alle Zukunft garantieren sollen. Der «Türmer» meint, das hiesse «gegen einen Wisch Papier soll Deutschland seine mit unerhörten Opfern errungenen Vorteile aufgeben». Er nennt diese Vorschläge «dummdreist», «waschechte Vorschläge eines Erzengländers» usw. Der Friede wird ja schliesslich doch nur auf Papier geschrieben sein können, oder der Krieg wird ewig dauern. Die Ansicht des «Türmer», dass es anders sein könne, ist psychopathisch. Die Bemerkung über W.’s gutgemeinten Vorschlag, der noch an einer viel massgebenderen Stelle Interesse erregte als der umnebelte «Türmer» sich träumen lässt, wird nicht ohne einen Seitenhieb gegen den Pazifismus vorgebracht. Der arme Pazifismus! Er wirkt auf gewisse Menschen, — gewöhnlich auf solche, die keine Ahnung von ihm haben (wie dies oben in den Wolken der Turmspitze der Fall zu sein scheint) — wie das rote Tuch auf den Stier. Da wagt jemand folgendes zu schreiben: «Mehr oder minder ist jeder Kulturmensch Pazifist. (Das stimmt; aber nicht jeder ist Kulturmensch!). Was uns von den zunftmässigen Vereinspazifisten der Haager Richtung entscheidend trennt, (das ist in einem einzigen Satz ebenso ein himmelblauer Blödsinn wie etwa «die Milchproduktion des deutschen Reichstags» oder «das Schienennetz des Norddeutschen Lloyd». Wir haben es nicht nötig, dem «Türmer» diesen Unsinn zu erklären, andeuten wollen wir nur, wie er uns erscheint. Er soll sich orientieren, ehe er ausgeht uns zu besudeln!) ist die Einsicht, dass sich ein noch Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende (so! warum nicht Aeonen?!) entferntes Ziel nicht mit Gewalt (!) in das nächste Jahrhundert hineinverpflanzen lässt. Es zeigt sich leider immer deutlicher, dass die Lehren dieses Weltkriegs an den gefühlsduseligen Anhängern der radikalen Friedensbewegung fast spurlos vorübergegangen sind». Hieran schliesst sich die oben wiedergegebene Bemerkung über den in den «Blättern für zwischenstaatliche Organisation» erschienenen Artikel W.’s. Der «Türmer» sagt also damit ganz deutlich, dass die «Blätter für zwischenstaatliche Organisation» das Organ der gefühlsduseligen Anhänger der radikalen Friedensbewegung sind. Wer diese Blätter kennt und die Arbeit ihres Herausgebers, weiss, dass der «Türmer» hiermit das sagt, was man milde als — — Irrtum bezeichnet.

Es ist empörend, sich gegen derartige unerhörte Angriffe zur Wehr setzen zu müssen, und bedauerlich, für die Bespeiung seiner Lebensarbeit nur mit der Feder entgegnen zu können.

Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass dieses Maiheft des «Türmers», worin diese leichtfertigen Verdrehungen enthalten sind, einen Leitartikel von Hans von Kahlenberg über «Die Lüge vom Frieden» enthält. Hans von Kahlenberg ist das Pseudonym für eine Frau. Man könnte aber meinen, ein Husarenleutnant hätte jenen Artikel geschrieben. Dass sie den Krieg als die mildeste Form des Kampfs ums Dasein bezeichnet, ist noch das Wenigste. Sie schreibt auch auf ihrem Damaststühlchen: «Darum, den Tapfern von uns sei der Krieg willkommen, hochwillkommen das Blutbad und der Schwerterblitz! Reinigung bedeutet er uns ...» usw. mit Blut und Tinte ad infinitum.

Aber das Köstlichste ist doch folgende Stelle:
«Welch lieblicher, wohlwollender und wohltätiger Friede, voll unerträglicher Spannung, voll Hass und Angst, bebend vor dem Überfall, raffend im Zusammenbruch, mit Spekulationen à la baisse und à la hausse, mit Verbrüderungen und Journalistenreisen, mit Gelehrtenaustausch, mit Banketten und Festreden! Das war unser Friede seit fünfundvierzig Jahren (!), der Friede, in dem wir erwachsene und reife Menschen wurden, in dieser Luft von Unaufrichtigkeit und Eigennutz, von Verrat, Untreue, Spitzfindigkeit, Gaunerei und Feigheit mussten wir atmen ...»

Sie hat bei diesem Schimpfen auf den Frieden, den wir gehabt haben, wohl nur an jene prickelnden, zweideutigen Romane und Novellen gedacht, die der Vor-August uns beschieden. — Aber jener Friede hatte doch auch noch andre Kulturgüter gezeitigt.