Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 19. November.

Ein bayrischer Prinz ist gefallen. Er wurde in München beigesetzt. Bei dieser Gelegenheit wurden durch die Presse die Einzelheiten verbreitet, die den Tod des jungen Prinzen zur Folge hatten. Da heisst es: «Um 2 Uhr 30 Minuten morgens trat eine plötzliche Schwäche ein. ,Noblesse oblige’ waren seine letzten Worte». Bei Mitteilung sogenannter «letzter Worte» von Sterbenden ist immer Vorsicht am Platz. Denn die Äusserungen der mit dem Tode Ringenden sind nicht immer sehr klar. Oft hört die durch das Ereignis betrübte Umgebung nur etwas, was sie sich irgendwie erst zurecht legen muss. Man kann daher bezweifeln, dass der Prinz diesen Ausspruch getan hat. Hat er ihn aber getan, dann war es unangebracht, ihn zu veröffentlichen, denn in diesem Volkskrieg hat nicht allein der «Adel» die Verpflichtung zu sterben. Millionen Bauern und Bürger haben diese ihnen aufgezwungene Pflicht erfüllt. Vielleicht werden sich auch die Sprachreiniger darüber entsetzen, dass man einen deutschen Prinzen mit einem französischen Spruch auf den Lippen sterben lässt. Doch das ist weniger wichtig.

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Das Beweisgebäude für die russische Initiative am Weltkrieg wird weiter ausgebaut. Die «Köln. Zeitung» vom 13. November bringt in einem Aufsatz die vom Reichskanzler am 9. November erwähnte russische Mobilmachungsordre von 1912 mit Verhandlungen zwischen russischen und französischen Militärs in Verbindung, die der Wahl Poincarés zum Präsidenten vorausgegangen sind. Die Wahl Poincarés sei durch russischen Einfluss begünstigt worden. Er siegte am 13. Januar 1913 gegenüber dem friedliebenden Kandidaten Pams. Die «Kölnische Zeitung» fügt hinzu: «In der Woche vom 11. bis 17. Januar wurde mehr entschieden als nur die Wahl Poincarés».

Wusste man das also schon 1913? — Was tat man denn dagegen? — Hat die Diplomatie danach gestrebt, einen Zustand herbeizuführen, um die Gefahr zu bebannen, die aus dem Generals-Techlel-mechteleien zwischen allen verbündeten Staaten entstehen musste? Was sie tat? Sie liess nicht nur den Militärs die Führung, sondern unterstützte diese noch. Sie machte ihnen die Bahn frei. Die bis jetzt aufgezeigten Gefährdungen und angeblich unbedingten Notwendigkeiten, die zum Weltkrieg geführt haben, entspringen alle nur jenem System, mit dem man sich einbildete, den Frieden sichern zu können, dem Rüstungssystem. Es war Selbstzweck geworden. Die Diplomaten, die dies zuliessen und die Gefahr nicht beizeiten eindämmten, sind die Mitschuldigen am Krieg. Alle Rechtfertigungen aber, die sich auf die militärische Lage stützen, sind lächerlich. Sie treffen nicht den Urgrund, wenn sie auch noch so plausibel aussehen, sondern nur Sekundäres. Wenn ein Haus abbrennt, in dem unbeaufsichtigte Kinder mit Streichhölzern gespielt haben, sind weder die Kinder noch der Streichholzfabrikant schuld, sondern der zur Beaufsichtigung der Kinder Verpflichtete.

Im letzten Grunde wurde das Unheil dieses Kriegs deshalb entfesselt, weil gewisse Kreise von der fixen Idee beherrscht waren, dass der Krieg nun einmal kommen müsse. Unter dem Einfluss dieser Idee erlahmte der Widerstand gegen die gefährlichen Wendungen der Krise. Man holte nicht das Letzte heraus, um die Gefahr abzuwenden, weil sich die Psyche der entscheidenden Persönlichkeiten mit der angeblichen Unabwendbarkeit des Ereignisses schon abgefunden hatte, und die Erwägung immer obenan stand, ob — da es nun schon einmal sein muss — der gegebene Augenblick nicht die günstigeren Chancen bot. Von der Überzeugung von der Unvermeidbarkeit des Kriegs bis zum Präventivkrieg führt eine an sich logische Ideenverbindung. Nur die Prämisse war falsch. Der Krieg hätte vermieden werden können, wenn man ihn in seiner Bedeutung für unser Zeitalter, in seiner zu erwartenden Ausartung begriffen hätte und wenn man demgemäss bestrebt gewesen wäre, die pazifistischen Sicherungen, denen man sich jetzt zuzuneigen versucht, statt zu verlachen anzuwenden. Der Krieg war vermeidbar.

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Ein Telegramm berichtet: «Berlin, 16. November. Das preussische Abgeordnetenhaus trat zusammen und der Präsident hielt eine Ansprache:

«Noch immer tobt der furchtbare Weltkrieg, in den wir trotz unserer Friedensliebe hineingetrieben worden sind».

Von dem Präsidentensitz dieses preussischen Abgeordnetenhauses erging am 1. März 1912 der Ordnungsruf an einen Abgeordneten, der angeblich den Krieg «beleidigt» hatte, mit den Worten: «Der Krieg ist ein Gebot Gottes, des Christentums, der Menschlichkeit ».