Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

10. Oktober 1914.

Antwerpen ist gefallen! Ein spät nachts eingetroffenes Telegramm meldet es ohne nähere Einzelheiten. Die Armee abgezogen. Dreissig im Hafen verankerte deutsche Schiffe wurden vorher in die Luft gesprengt.4)

Die Beschiessung von Przemysl wird jetzt zugegeben, gleichzeitig mit der Mitteilung, dass die Russen dabei erlahmen. Vormarsch auf einige Linien wird gemeldet. Verstimmend wirkt die Meldung, dass Russen wieder in Lyck (Ostpreussen) aufgetreten sind. Durch die Einnahme Antwerpens dürfte auch das Ringen im Norden Frankreichs beeinflusst werden, denn von der 200,000 Mann zählenden Belagerungsarmee wird jetzt ein grosser Teil frei. Allerdings auch die in Antwerpen eingeschlossene belgische Armee, die vorher abgezogen ist. Auch sie dürfte nach Frankreich dirigiert worden sein, wenn sie nicht zur Verteidigung von Ostende Verwendung finden wird.

Ein feindliches Luftfahrzeug warf gestern eine Bombe auf die Luftschiffhalle in Düsseldorf und beschädigte ein darin befindliches Luftschiff. Düsseldorf ist offene Stadt. Böser Präzedenzfall für England, wo es gar keine Festungen gibt.

Von Giretti, den ich um einen Artikel bat, indem er — als Angehöriger eines neutralen Staates — über die Zukunft des Friedens sich äussern sollte, gestern Brief erhalten, der mir die im Auslande gegen die Zentralmächte herrschende Stimmung zeigt. Nach ihm haben die Regierungen beider Länder den Krieg gewollt und produziert.

Jetzt ist da nichts zu machen. Nach dem Krieg erwächst uns die schwere Aufgabe, uns auch mit unseren Freunden auseinanderzusetzen. Die Verurteilung des gesamten Auslandes scheint grenzenlos zu sein. Die Begründungen des deutschen Weissbuches finden keinen Glauben und kein Gehör.

Ein Brief von Prof. Anschütz in Berlin, dem die «Friedens-Warte» zugegangen ist. Findet darin «versteckte Deutschfeindlichkeit». Wer jetzt nicht mit aller Kraft in das offizielle Horn stösst, ist «deutschfeindlich»! Diese Leute haben keine Ahnung davon, welche Dienste gerade wir Pazifisten unserem Lande geleistet haben, Dienste, die den Krieg verhindert hätten, wenn unsere Arbeit nicht von der gefährlichen Wühlarbeit der Keim, Bernhardi, Baudissin und tutti quanti übertrumpft worden wäre. Die Geschichte wird uns gegen derartige Anwürfe rechtfertigen.

Auch Sch. übt Kritik an der «Friedens-Warte», wobei er vielfach im Banne der landesüblichen Presseauffassung ist. Albion perfid, geplanter Überfall! Schliesslich begreiflich, aber das Ganze doch im höchsten Grade bedauerlich.

Quidde versendet aus dem Haag einen «offenen Brief an Davidson in Florenz», der in der «Frankfurter Zeitung» vom 16. August Viscount Haldane «der Achtung unwürdig» erklärt hat, weil dieser im Kabinett geblieben. Mutige und kraftvolle Worte, die Quidde sicher auch den tückischen Vorwurf der «Deutschfeindlichkeit» eintragen werden. Schön ist der Schluss dieses Artikels, den keine deutsche Zeitung veröffentlichen wollte.5)

Er lautet:

«Wenn der Krieg beendet ist, wird die Aufgabe an uns herantreten, eine Gemeinschaft wieder aufzubauen, nicht etwa nur eine kulturelle Gemeinschaft (die kann ja gar nicht durch den Krieg zerstört werden), sondern eine politische Gemeinschaft der europäischen Kulturvölker. Ähnlich vielleicht, wie aus dem deutschen Bruderkrieg von 1866 die Gemeinschaft des Deutschen Reiches und die völkerrechtliche Verbindung Deutschlands und Österreichs erwuchs, muss aus dem europäischen Krieg eine politische Organisation für Europa erwachsen, wenn es nicht auf den Primat der Menschheit verzichten will. Dann werden Männer von unserer Gesinnung mithelfen müssen, jeder zu seinem Teil, einer solchen Entwicklung die Wege zu bahnen — und glauben Sie, dass man dann auf Männer wie Lord Haldane leichten Herzens wird verzichten können, obschon er jetzt aus Gründen, die wir nicht kennen, Mitglied des Kabinetts geblieben ist? Und glauben Sie, dass es Ihnen dann noch Befriedigung gewähren wird, ihn jetzt gebrandmarkt zu haben, indem Sie ihn öffentlich der öffentlichen Achtung für verlustig erklärten?»


4

Erwies sich später als unrichtig.

5

Der ganze Artikel ist abgedruckt in der «Friedens-
Warte», 1914, S. 325.