Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

27. Mai (Lugano) 1915.

Es hat sich nichts geändert; es gibt nur einen Kriegsschauplatz mehr. Dass die Angriffe der Feinde unter grossen Verlusten zurückgeschlagen wurden, die unsrigen vordringen, wird man jetzt nicht nur aus Galizien, Flandern, Westpolen lesen, sondern auch aus Tirol und dem Friaul. Die Berichte des italienischen Generalstabs, die Phraseologie der italienischen Zeitungen, alles, alles fügt sich den bisher bereits gewöhnten Erscheinungen organisch ein.

Die Stimmung in Deutschland ist, offiziell, sehr zuversichtlich. Sogar in Österreich. Innerlich wird es anders sein. Ist ja auch kaum zu denken, dass es nicht so wäre. Zehn Monate Krieg. Unmögliche Verluste und doch nicht Endgiltiges erreicht. Im Gegenteil: ein neuer, gewiss nicht zu unterschätzender Feind. Die Zuversicht in Deutschland hat einen innern Umschwung erlitten. Früher war es die Zuversicht auf einen Sieg, der zur Weltherrschaft führt; jetzt ist es die Zuversicht, dass die Verteidigung gegen den Weltangriff gelingen werde. Da ist eine schwerwiegende Differenz. Wollte man sich zu dieser veränderten Auffassung bekennen, so glaube ich wohl, dass Deutschland und Österreich jetzt zu einem ehrenvollen Frieden gelangen könnten. Wieviel Blut könnte gespart werden!

Im «Berliner Tageblatt» lese ich die bescheidene Anpreisung einer «Lotterie zur Bekämpfung der Tuberkulose». Wie jämmerlich! Den Weg der Lotterie für diesen Zweck, und das wahrscheinliche Ergebnis vielleicht 100,000 Mark! Der Krieg kostet täglich gegen 50 Millionen! Und das ist eine vernünftige Weltordnung!