Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

21. März (Lugano) 1915.

Der Streit um das Motiv des Kriegs geht weiter. Es ist ein Rassenkrieg, meinen die Einen, ein Handelskrieg die Andern. Sie haben Alle unrecht. Diese nachträgliche Auslegung erscheint verdächtig. «Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter». Es scheint mir dieser Krieg nur ein «Kriegskrieg» zu sein: der Krieg um des Krieges willen. Die Folge eines überwuchernden Rüstungswesens, das endlich zur Anwendung gelangen wollte. Hardens Worte aus einem seiner Artikel von 1913 oder 14 (wiederholt 1915) gehen mir dabei nicht aus dem Sinn: «Wozu haben wir dieses Heer?» — Hier ist der Schlüssel. Zuerst schuf man das Heer zur Verteidigung, bezeichnete die dafür verausgabten Milliarden als die Versicherungsprämie gegen den Krieg, dann glaubte man, dieses mächtige Instrument auch benützen zu sollen. «Wozu haben wir dieses Heer?» — Nun ist es in Verwendung, und nun strengen sich die Leute ihre Köpfe an, aus welchen mystischen Motiven heraus dieser Krieg geführt wird. Geheime Kräfte, die angeblich die Völkerschicksale bestimmen, «tellurische Einflüsse», Naturgesetze usw. erfüllen das Vorstellungsvermögen, und auf die emsige Arbeit in den Generalstabsbureaus lenkt niemand sein Augenmerk.

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Über die Angelegenheit, die heute die Spannung erzeugt, über die österreichisch-italienische, herrscht völlige Ungewissheit. Die einen bezeichnen das Abkommen als bereits erledigt, die andern behaupten, dass Kaiser Franz Josef jede Gebietsabtretung abgelehnt habe.

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Heute beginnt kalendergemäss der Frühling. Sommer und Winter sind im Krieg vergangen, und nun sieht auch der Frühling noch Europa in den Schützengräben. Zwei Drittel eines Jahres haben in Mord und Vernichtung ihren Lauf vollendet. Quousque tandem?

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