Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 15. Oktober.

Über den kürzlich bei Landsberg a. d. Warte statt gehabten Eisenbahnzusammenstoss, bei dem einige Menschen zugrunde gegangen sind (15, wie lächerlich!) veröffentlicht Arthur Fürst im «Berliner Tageblatt» (13. X.) eine interessante technische Plauderei über die Sicherungen im Eisenbahnbetrieb. Der Hauptzug stand in Zantoch und konnte vom Bahnwärter nicht freigegeben werden, weil vom Vor-Wärter in Jahnsfelde das Freisignal noch nicht eingelaufen war. Der Wärter von Zantoch fragte daher bei dem Wärter von Jahnsfelde telephonisch an. Dieser glaubte, er hätte die Durchfahrt des Vorzugs, der wegen Maschinendefekt auf offener Strecke stehen geblieben war, übersehen und sagte dem Kollegen: «ich werde sofort freiblocken!» Dann heisst es im Aufsatz:

«Das war schon ein unerhörter Leichtsinn; aber nun erst beginnt die Kette der eigentlichen Irrtümer und ganz unbegreiflichen Handlungen. Der Mann in Jahnsfelde trat nach beendetem Telephongespräch an seinen Blockapparat, um die Freigabe des Signals in Zantoch zu bewirken. Das konnte er jedoch nicht ohne weiteres, denn sein Durchfahrtsignal, das er für den Vorzug gezogen hatte, stand ja noch auf Fahrt Frei, und die Anordnung im Blockapparat sperrte, solange das der Fall war, die Freigabetaste für Zantoch. In dem Glauben, der Vorzug sei tatsächlich schon vorbei, ohne sich jedoch im geringsten darüber Gewissheit zu verschaffen, stellte der Wärter sein Durchfahrtsignal auf Halt zurück. Aber auch jetzt konnte er die Freigabetaste noch nicht bedienen. Es befand sich noch immer eine Hemmung im Gestänge. Diese konnte nur der vorüberfahrende Vorzug fortschaffen, indem er einen hinter dem Durchfahrtssignal liegenden Schienenkontakt befuhr. Da die Zugfahrt nicht stattgefunden hatte, bestand die Sperre fort.

Bis jetzt war also die Freigabe für Zantoch noch gar nicht möglich. Aber — dieses mörderische Aber! — es kommt vor, dass ein Schienenkontakt, der ja auch nur Menschenwerk ist, in Unordnung gerät, und die Tastensperre nicht auslöst, wenn auch tatsächlich ein Zug darüber gefahren ist. Darum ist am Blockapparat eine Einrichtung getroffen, die dem Stellwerkswärter gestattet, in einem solchen Fall, nachdem er die feste Lieberzeugung von dem Versagen des Schienenkontakts gewonnen hat, die Tastensperre durch Bewegen eines kleinen Hebels am Blockapparat selbst auszulösen. Dieser Auslösehebel ist immer durch ein Bleisiegel festgehalten, um ihn bewegen zu können, muss das Siegel erst abgenommen werden.

Sobald aber das Siegel entfernt ist und noch bevor die eigenmächtige Auslösung der Tastensperre stattfinden darf, treten gänzlich andere Bestimmungen für die Bedienung der Signalstellhebel in Kraft. In ihrer Lehrzeit, in allen Prüfungen, durch die Paragraphen ihrer Dienstvorschrift und auch durch häufige Ermahnungen wird den Stellwerksbeamten immer von neuem eingeschärft, dass sie in einem solchen Fall zunächst das telegraphische oder telephonische Meldeverfahren anzuwenden haben. Demzufolge war es selbstverständlich, dass der Wärter in Jahnsfelde jetzt, bevor er den vom Siegel befreiten Auslösungshebel für die Tastensperre tatsächlich bewegte, bei der folgenden Blockstelle anfragte, ob der Vorzug mit seinen Schlusslaternen dort vorübergefahren sei.

Aber der Jahnsfelder Beamte ging nicht ans Telephon. Wiederum vollkommen sinnlos handelnd löste er sofort nach dem Abreißen des Siegels die Tastensperre auf, gab Zantoch durch Entblocken frei, worauf der dortige Wächter folgerichtig das Ausfahrtsignal für den D-Zug auf Fahrt Frei zog. Der D-Zug fuhr nun mit voller Geschwindigkeit durch Zantoch und musste auf den haltenden Vorzug aufstoßen.»

Das ist doch interessant, wie die Menschen, wenn sie nicht von irgendwelchen Gefühlen oder vorgefassten Meinungen benebelt sind, sich vor Unheil zu schützen wissen. Welche Summe von Übertretungen und Unterlassungen ist doch nötig, um einen Eisenbahnzug in Gefahr zu bringen. Wenn wir im Juli 1914 gegen die ungleich größere Gefahr nur halb so viel solche Sicherungen gehabt hätten, wäre der Weltkrieg vermieden worden. Solche Sicherungen müssen aber eingerichtet werden, denn die Diplomaten sind ebenso Menschen wie die Bahnwärter, nur weniger zuverlässig als diese und mit weniger Verantwortlichkeitsgefühl ausgestattet. Sie vermögen ihre Fehlhandlungen mit patriotischen Beweggründen zu verschleiern, und in der Regel glaubt man ihnen auch, mögen ihre Fehler noch so viel Opfer fordern. Her mit den Sicherungen für den zwischenstaatlichen Verkehr!