Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Locarno, 9. April.

Graf Czernin hat eine große Rede gehalten, die den Text zu jener Melodie geben soll, die auf den Schlachtfeldern des Westens jetzt gespielt wird. Es ist eine große und bedeutungsvolle Rede, die einen tiefen Blick in die Gedankengänge jenes Staatsmannes gestattet. Dass diese Rede dem Frieden dienen soll, kann heute nicht mehr gesagt werden, wo man deutscherseits es vorgezogen hat, die Kanonen das entscheidende Wort reden zu lassen. Sie hat daher eher Wert als Kommentar zu dem großen Vorstoß im Westen. Dabei ist manches Bekenntnis von Interesse, manche Ansicht als Beleg für den großen Irrtum der mitteleuropäischen Politik von Wert.

Zunächst das Bekenntnis aus dem Munde des führenden Staatsmannes, dass diese furchtbare Menschenvergeudung im Westen im Grund nur jenem Idol zum Opfer gebracht wird, das ich hier schon vor einigen Tagen als den Kern der grauenhaften Handlung bezeichnet habe, dass es hierbei um Elsaß-Lothringen geht. Die überraschende Mitteilung, dass Clémenceau einige Tage vor Beginn der Offensive in Wien angefragt habe, ob man dort zu Verhandlungen bereit sei, und dass es zu diesen Verhandlungen nicht kommen konnte, weil Frankreich nur verhandeln wollte, wenn über Elsaß-Lothringen geredet werden durfte, und Deutschland das ablehnte, erleuchtet wie ein nächtlicher Blitzstrahl die Situation. Resigniert sagte Graf Czernin: «Darauf gab es keine Wahl mehr.» Gab es wirklich keine Wahl? Hätte nicht aus Konversationen der Ausweg aus dieser höllischen Klemme gefunden werden können, ohne das irgendeiner der Beteiligten seine vollen Ansprüche auf die beiden unseligen Provinzen erfüllt gesehen und doch jeder hätte befriedigt werden können? Wenn man jetzt von den Leichenfeldern in der Picardie liest, von den grauenhaften Vernichtungen, so erscheint einem die kühle Erklärung, die vom Prestigeteufel eingegeben ist, das es keine Wahl mehr gegeben hätte, als entsetzlich! Niemals werden sich die Völker, die sich nach des Grafen Czernin eigenem Ausspruch in allen Ländern nach Frieden sehnen, mit dieser bündigen Entscheidung am grünen Tisch zufrieden geben.

Graf Czernin spricht am Schluß seiner Rede sehr ausführlich von den Kriegsverlängerern in Österreich-Ungarn, von denjenigen Leuten, die er höchstmodern «Defaitisten» nennt, die angeblich um Frieden betteln und dadurch den Feind anspornen, von den Annexionisten, die von der Kilometritis besessen, ihn zu Landerwerbungen drängen, und von jenen innerpolitischen Parteien, die in der Hoffnung auf ihre nationale Befreiung auf einer Sieg der Entente spekulieren. Diese Gruppen tragen nach ihm die Schuld, das der Krieg noch andauert.

«Sie sind der Grund,» so ruft er pathetisch aus, «dass weiter tausend unsrer Söhne fallen, dass das Elend andauert und der Krieg sich fortschleppt. Graut ihnen nicht vor der Verantwortung? Was werden deutsche, was werden ungarische Mütter dereinst sagen, wenn nach dem Frieden die kriegsverlängernde Tätigkeit dieser Männer klar vor aller Welt dargelegt werden wird und noch mehr?»

Graf Czernin beschränkt sich hier, nur von denjenigen zu reden, die er als die Kriegsverlängerer ansieht, und unterlässt es, den Fluch der Mütter anzurufen über die, die den Krieg verursacht haben. Aber müssen denn Tausende unsrer Söhne fallen, das Elend andauern, der Krieg sich fortschleppen, der Schmerz der österreichisch-ungarischen Mütter weiter zum Himmel schreien — wegen Elsaß-Loithringen?! Sind die Kriegsverlängerer nicht dort zu suchen, die dieser Fiktion, dieser Spottgeburt verwehter Prestigeideen, diesen elenden paar Quadratkilometern lieber Hunderttausende von Menschenleben, darunter auch Söhne Österreich-Ungarns zum Opfer bringen, statt mit dem Aufwand allen Scharfsinns, unter Zusammenraffung des gesunden Menschenverstandes, der militaristischen Weltanschauung Trotz zu bieten, und den möglichen, den unbedingt notwendigen Ausgleich in diesem Konflikt zu suchen, an dem die Menschheit verblutet? Graf Czernin kann sicher sein, dass alle vernünftigen Menschen in allen Ländern, in den jetzt feindlichen wie in Deutschland selbst, zu ihm gestanden hätten, wenn er auf die Regierung des Bundesgenossen seinen Einfluss geltend gemacht haben würde, dahingehend, dass über dieFrage der beiden Provinzen wenigstens gesprochen werden sollte. Wo zu reden begonnen wird, zeigt sich ein Ausweg, auch dann, wenn man ihn nicht gleich klar sieht. Und als Zustimmender zu den vier Grundsätzen Wilsons, denen ja auch Deutschland zugestimmt hat, hätte er ein Recht gehabt, nach dieser Anfrage Clémenceaus den Präsidenten Wilson zur Hilfe zu rufen, damit er helfe, den Weg zu suchen, der zu den von Clémenceau gewünschten Verhandlungen hätte führen können. Die Leichenfelder rochen schon im voraus, die ganze Welt spürte ihren erstickenden Brodem, und es war nicht angebracht, in getreuem Gehorsam gegen den Willen der Generale angesichts dieser Katastrophe sich kalt lächelnd auf das «da blieb keine andere Wahl» zurückzuziehen. Möge Graf Czernin es glauben, das Führer der Völker, die von diesen selbst gewählt wurden, diese Alternative von Leichenfeldern oder schwieriger Prestigebedenken doch etwas eingehender erwogen hätten.

Merkwürdig ist in dieser Rede noch der Satz: «Wir kämpfen nicht für imperialistische und annexionistische Ziele, weder für eigne noch für deutsche.» Aber im Westen, wo nach des Grafen Aussage österreichisch-ungarisdie Truppen «Schulter an Schulter» neben deutschen stehen, wird um die Weltherrschaft gekämpft, und in Rumänien hat Österreich-Ungarn soeben für sich selbst, bestimmten «Grenzkorrekturen», die Annexionen und Demütigungen sind und bleiben, einerlei wie der Name lautet, beigestimmt, hat es den Bulgaren zur Dobrudscha verholfen und ist es nach des Grafen Czernin Ankündigung bereit, den Bulgaren auf Kosten der Serben zu Mazedonien, den Rumänen aber zu Bessarabien zu verhelfen. Das sind keine Annexionen, wie dem Grafen Czernin auch das Zuströmen der russischen Randvölker zu Deutschland, ohne Feststellung des Volkswillens durch Abstimmung, auch nicht als Annexion erscheint!

Man hält sich an das Wort. Man tut so, als ob es sich bloß um die Vermeidung der Vokabel handelt und nicht auf die Vermeidung der damit gedeckten Handlung ankommt. Und ist es denn keine Annexion, wenn man Rumänien wirtschaftlich derart fesselt, wie dies in dem jetzigen Friedensvertrag geschah, das es nur wie ein unterjochter Vasallenstaat wird leben können? Alles, was den Reichtum des Landes ausmachte, die Ölfelder, den Getreidebau, nahm man in deutsche Verwaltung, den Hafen gab man den Bulgaren, eine Kriegslast von einer Milliarde lud man dem unglücklichen Volk auf, das von seinem König in den Krieg getrieben wurde. Aber den König beließ man ihm. Er soll wohl die Garantie für die freundschaftlichen Beziehungen bilden, die man nach diesem Friedensschluss erwartet, der weder als imperialistisch noch annexionistisch bezeichnet werden soll.

Es ist mit der «hohen Meinung» über die staatsmännischen Fähigkeiten des «Herrn Präsidenten der Vereinigten Staaten», die Graf Czernin sich bemüßigt glaubte, zu Eingang seiner Rede zum Ausdruck zu bringen, nicht getan, auch nicht mit der platonischen Zustimmung zu seinen vier Grundlagen für den Friedensschluss , wenn man Handlungen begeht, sich ihrer rühmt, sie als berechtigt, ja als heilvoll ansieht, die mit den Wilsonsdien Ideen von Frieden so sehr in Widerspruch stehen. Das ist das Unglück der Mütter der Monarchie, der fallenden Söhne und der hungernden Völker, dass man bei der Führung der Politik der Zentralmächte keine Ahnung von den Erfordernissen eines wahren Friedens hat, dass man, selbst wenn man sie hätte, im Willen dazu durch die herrschenden militaristischen Dogmen und Dogmatiker gehindert wird. Hier liegt die Ursache des Kriegs, hier liegt der Grund zu seiner Verlängerung. Man konstruiere uns doch keine Schuldigen aus Pappendeckel, wo es um wahrhaftige, warmblütige, lebendige Schuldige geht.

So wird man auch dem erneuten Bekenntnis der Grafen Czernin zu einer nach dem Krieg notwendig werdenden Abrüstung keinen Wert beilegen dürfen. Der Bleistift, mit dem der Graf diese Notwendigkeit ausgerechnet hat, genügt hierzu nicht. Abrüstung kann nur das Ergebnis eines auf Vertrauen beruhenden Abkommens sein, kann Überhaupt nur ein Ergebnis, nicht ein unvermitteltes Ereignis bilden. Kann aber jene Voraussetzung zustande kommen, solange man Friedensschlüsse, wie sie im Osten geschlossen, mit Landloslösungen und strategischen Grenzsicherungen, mit Halsabschnürungen wie in Rumänien, und mit Friedensschlüssen der Art, wie man sie im Westen vornehmen will? Niemals! Der Bankrott der Zukunft ist vom Grafen Czernin ganz richtig gesehen worden, aber von den Mitteln zu seiner Vermeidung ist bei ihm wahrlich nichts zu merken. Die Feinde, sagt Graf Czernin, müssen, nachdem sie militärisch erobert sind, auch noch moralisch erobert werden. Irrtum! Grauenhafter Irrtum! Wir müssen uns alle selbst moralisch erobern; auch die Moral beginnt zu Hause. Dann wird in einer moralisch erneuten Welt der Weg zum Frieden gefunden werden. Der militärische Erfolg wirkt hier nur störend.