Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 3. Juni.

Die «Deutsche Tageszeitung» berichtet (23. Mai) über ein Buch «Ist der Krieg sittlich berechtigt?» Verfasser ist ein Wiener Universitätsprofessor namens Fritz Wilke. Was er an der Wiener Universität doziert, ist mir nicht recht in Erinnerung. Das muss ja ein ganz erbauliches Buch sein. Die Darlegungen über die Vereinbarung des Kriegs mit der christlichen Lebensauffassung muten ganz talmudisch an. Was da (ich folge dem Artikel der D. T.) an «sittlicher Berechtigung des Kriegs», an «Schickung Gottes», an «innerer Berechtigung des sogenannten Militarismus», «der Krieg als Schule der Läuterung», «als Erwecker zum Leben (!)» und ähnlichen Schlagworten geleistet wird, schreit zum Himmel! Eine Stelle, mit der das Buch schliesst, sei hier wiedergegeben. Sie lautet nach dem Zitat der D. T.:

«Nicht: ,Die Waffen nieder!’ heisst darum die Losung, sondern: ,die Waffen hoch!’ Mit reiner Hand und ruhigem Gewissen dürfen wir zum Schwerte greifen; denn der Krieg, der die Völker vor dem Versumpfen in erbärmlicher Selbstsucht und widerlichen Materialismus, in Krämersinn, Genussleben, Verrottung und Fäulnis bewahrt, der alles Unechte, Falsche, Mattherzige, Feige zerstört, der uns von allen Schlacken läutert und den Blick emporlenkt zu dem Hohen, Edlen, Ewigen, ist nach dem bekannten Wort Moltkes trotz seiner Schrecken ein Stück der sittlichen Weltordnung».

Also kein Krüppeldasein führen, keine Läuse haben, keinen Flecktyphus, nicht im Konzentrationslager, Gefangenenbaracken schmachten, altwerden und der Menschheit wie der Familie etwas leisten statt mit 19 oder 20 Jahren totgeschossen zu werden, das heisst versumpfen, Verrottung und Fäulnis.

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Salandra hat gestern in Rom eine Rede gehalten, in der er die Haltung Italiens gegenüber den Vorwürfen verteidigt, die in dem Manifest Kaiser Franz Josefs und in der jüngsten Reichstagsrede des Reichskanzlers erhoben wurden. Der selbe Brustton der Überzeugung wie bei allen andern offiziellen Reden in den verschiedenen Ländern, der selbe Beifall und die gleiche Zustimmung bei den Hörern. «Die hohe moralische und politische Würde der Sache, die unsre Waffen zur Geltung bringen», so heisst es an einer Stelle. Wenn man die Rede liest, glaubt man, es sei noch kein heiligerer, noch kein aufgezwungenerer Krieg geführt worden. Ein Plaidoyer. Wie man sie in Rechtsstreitigkeiten täglich hört, auch von den Vertretern der ungerechten Sache. Nur dass in diesem Fall das Urteil sehr lange auf sich warten lässt. Salandra beklagt sich über die Haltung Österreich-Ungarns Italien gegenüber, die das Bündnis seit Jahren kompromittiert habe. Er hält es aber nicht der Mühe wert, zu erklären, warum man dann dreissig Jahre lang das Bündnis ertragen hat, und warum man es gerade jetzt löst, wo die Konjunktur günstig erscheint.

Im übrigen konnte es keine glänzendere Rechtfertigung für die Bekämpfer der europäischen Allianzen geben, als diesen schmählichen Bankrott des Dreibundes. Keine glänzendere Rechtfertigung der Bekämpfer des Diplomatenunfugs, die uns stets mit ernster Miene von der «völligen Übereinstimmung» ihrer Anschauungen überzeugen wollten. Der 23. Mai 1914, an dem der Bundesgenosse Italien dem Bundesgenossen Österreich-Ungarn den Krieg erklärte, wird als geschichtliches Datum erster Ordnung glänzen. An diesem Tage hat die alte europäische Bündnispolitik ihr Ende erreicht.

Interessant ist in Salandras Rede die Mitteilung, dass die italienische Regierung bereits am 27. und 28. Juli 1914 in Wien und Berlin die Forderung von Kompensationen erhoben habe. Vielleicht erklärt dies die Tatsache, dass die österreichisch-ungarische Regierung am 29. Juli sich bereit erklärte, mit Russland in direkte Unterhandlungen zu treten.