Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 15. Oktober.

Neue Veröffentlichungen der «Norddeutschen Allg. Zeitung» (11. Oktober), über die Vorgeschichte des Weltkriegs mit Wiedergabe einiger Stücke der diplomalischen Korrespondenz zwischen Wien und Berlin, Erweckt den Eindruck, als sollte die Schuld am Kriegsausbruch auf Wien werden, in Verbindung mit der Entrevue von Sofia nicht ohne Bedeutung.

Der Zweck der neuen Veröffentlichung gilt dem Nachweis, «das Deutschland alles, was in seiner Macht stand, getan hat, um den Ausbruch des Kriegs zu verhindern». Danach sind diese Veröffentlichungen ganz überflüssig. Diejenigen, die die Autorität der Regierung unbesehen anerkennen und an der Ehrlichkeit des offiziösen Organs nicht zweifeln, zweifeln schon längst nicht mehr an der Unschuld Deutschlands. Jene aber, die sich eine Überzeugung von der Schuld Deutschlands gebildet, das ungeheuer verwickelte Material kritisch geprüft haben und zu übersehen vermögen, werden durch die neuen Enthüllungen in ihrer Ansicht nur bestärkt. Erkennen sie doch das Bestreben, von den Hauptpunkten abzulenken und durch Irreführung und Verwirrung ein Resultat zu erzielen.

Bei der außerordentlichen Verwickeltheit des Materials müsste man zur Widerlegung der neuen Enthüllungen wieder einen Band schreiben, um die darin enthaltenen mannigfachen Unrichtigkeiten klarzulegen. Das kann ich hier nicht. Daher nur das Grundsätzliche.

Man will den Nachweis geliefert haben, dass deutscherseits kein aus Wien gekommenes Telegramm unterschlagen worden sei, wie in der englisch-französischen Presse behauptet wird. Angeführt wird als Beweis hierfür ein österreichisches Telegramm vom 30. Juli, worin Berchtold sich bereit erklärt, «Anregungen» über die serbische Note seitens der russischen Regierung entgegen zu nehmen.

Dieses Telegramm vom 30. Juli ist aber nicht jenes, dessen Nichteintreffen in London, in England und Frankreich bemängelt wird. Nach Headlam, «Zwölf Tage Weltgeschichte» Seite 228 bis 229, handelt es sich um ein Telegramm Berchtolds nach Berlin vom 31. Juli, worin der österreichisch-ungarische Minister der deutschen Regierung mitteilt, dass Österreich-Ungarn «gern bereit sei, dem Vorschlag Greys, zwischen uns und Serbien zu vermitteln, näher zu treten». Headlam hebt die Wichtigkeit dieses Telegramms hervor und bemerkt:

«Sir Eduard Grey gelangte nie in den Besitz dieser antwort. Sie wurde von Wien nach Berlin gesandt, aber niemals von Berlin nach London befördert. Die Tatsache ihrer Absendung wurde vollständig unterdrückt, und man wusste nichts davon, bis das Telegramm sechs Monate später, von der österr.-ungarischen Regierung veröffentlicht wurde. »

Des übrigen soll es der Zweck dieser jetzt veröffentlichten Korrespondenz zwischen Wien und Berlin sein, zu beweisen, dass man in Österreich-Ungarn bereit war, auf den Grey-Vorschlag, Besetzung eines Teils serbischen Gebiets, einzugehen, und alsdann zu unterhandeln. Das geht aus der produzierten Wiener Antwort keineswegs hervor.

Das Schwergewicht des englischen Vorschlags lag darin, dass Österreich-Ungarn nach einer Besetzung eines Teils serbischen Gebiets «nicht weiter vorrücken werde, bis die Mächte einen Versuch gemacht hätten, zwischen ihm und Russland zu vermitteln». Die Antwort Berchtolds sichert das nicht zu, sondern spricht nur von einer zeitlichen, nicht auch von einer örtlichen Begrenzung der Besetzung serbischen Gebiets, sie lässt ferner diese unbegrenzte Besetzung als Garantie für die «völlige Erfüllung» ihrer Forderungen erscheinen, nicht als Faustpfand während der Vermittlungsversuche mit Russland, wie Grey es gemeint hat. Headlam bemerkt hierzu (Seite 221), dass Russland eine abwartende Haltung beobachten konnte, «wenn es vorher wusste, wie weit die österreichisch-ungarischen Okkupation gehen würde». Berchtold hat daher den Grey-Vorschlag keineswegs angenommen, wie die Norddeutsche Allg. Zeitung den Eindruck erwecken will, und die deutsche Regierung hat mit der Übermittlung dieses Telegramms nach London der Sache der Kriegsvermeidung gar keinen Dienst geleistet.

Was kann also die deutsche Regierung, die der österreichisch-ungarischen tatsächlich am 28. Juli abends einen analogen Vorschlag, wie Grey ihn am 29. Juli (Blaubuch 88) gemacht hat (Besetzung Belgrads) jetzt mit diesem Schriftstück anderes bezwecken als Österreich-Ungarn in der Schuldfrage bloßzustellen?

An Nebenbemerkungen zu der sonderbaren Veröffentlichung seien noch zu machen:

Die in der N. A. Z. erstmalig wiedergegebene deutsche Note an Österreich-Ungarn vom 28. Juli abends, hebt an mit den Worten: «Die nunmehr vorliegende Antwort der serbischen Regierung.» Diese Antwort war aber am 25. Juliabends bereits bekannt, zumindest am 27. amtlich im Besitz der deutschen Regierung!! Wieso am 28. Juli abends die Betonung des «nunmehr»?

Die Note enthält den bemerkenswerten Satz, dass die russische Regierung sich der Erkenntnis nicht verschließen wird, «dass nachdem einmal die Mobilisierung der österr.-ungarischen Armee begonnen hat, schon die Waffenehre den Einmarsch in Serbien erfordert».

Die Waffenehre! Baalsdienst!

Dann noch eine wichtige Entstellung der Norddeutschen Allg. Zeitung. Sie spricht von der «sogenannten ,Sasonow’schen Formel', welche die anmaßenden Forderungen Russlands auf Einmischung in den österreichisch-serbischen Streit unverändert aufrecht erhielt und den Aufschub der militärischen Maßnahmen ablehnte » In Wirklichkeit lautet das betreffende Dokument Sasonow's vom 30. Juli (Orangebuch 60) an der betreffenden Stelle folgendermaßen: «je lui ai (dem deutschen Gesandten in Petersburg) dicté, pour être transmise d’urgence à Berlin, la declaration suivante: ,Si l’Autriche, reconnaissant que la question austro-serbe a assumé le caractère d’une question européenne, se déclare prête à éliminer de son Ultimatum les points qui portent atteinte aus droits souverains de la Serbie, la Russie s'engage à cesser ses préparatifs militaires. »

Es heißt dann bei der N. A. Z. weiter: «Es ist Sir George Buchanan, wie aus dem Bericht des französischen Botschafters hervorgeht, der für die unversöhnliche und verhängnisvolle Haltung Russlands verantwortlich ist.» (Franz. Gelbbuch No. 113.)

Wenn man nun No. 113 des französischen Gelbbuchs (vom 31. Juli) aufschlägt, so findet man einen Bericht Paléologues an Viviani. in dem allerdings steht:

«. . . von dem Wunsch geleitet, nichts zu unterlassen, um die Aufrichtigkeit seiner Friedensliebe zu beweisen, benachrichtigt mich Herr Sasonow, dass er seine Formel auf das Ersuchen des englischen Botschafters folgendermaßen geändert hat: ,Wenn Österreich-Ungarn einwilligt, den Vormarsch seiner Truppen auf serbischem Gebiet anzuhalten, und wenn es, in der Erkenntnis, dass der österreichisch-serbische Konflikt den Charakter einer Frage von europäischem Interesse angenommen hat, zugibt, dass die Großmächte prüfen, welche Genugtuung Serbien der österreichisch-ungarischen Regierung gewähren könnte, ohne seines Hoheitsrechtes und seiner Unabhängigkeit Abbruch zu tun, verpflichtet sich Russland in seiner zuwartenden Haltung zu verharren. »

Diese Formel ist, da sie auf eine Bereitwilligkeit Österreichs, auf seine Ultimatumsforderung zu verzichten nicht weiter besteht, also sogar noch entgegenkommender als die am 30. Juli von Sasonow an Pourtalès diktierte Formel. Da am 31. Juli die allgemeine russische Mobilmachung bereits beschlossen war, ist hier nicht mehr von der Einstellung der Mobilisation, sondern von einer abwartenden Haltung die Rede. Mittlerweile war auch in Petersburg die Beschießung Belgrads vom 30. Juli bekannt geworden.

Der englische Botschafter hat also gerade im Gegensatz zu dem, was die N. A. Z. behauptet einen versöhnlichen und günstigen Einfluss auf Russland genommen.