Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 4. Dezember.

So bequem, wie man es sich nach der ersten Meldung vorstellte, ist es übrigens bei der Einnahme von Belgrad nicht gewesen. Es kam zum Bajonettsturm und Donauübergang unter Artilleriefeuer. Die spätere Kriegsgeschichte wird uns erklären, warum diese Forcierung erst nach vier Monaten möglich war und wieviel Opfer sie schliesslich erfordert hat.

ln der Reichstagssitzung, in der ein erneuter Kriegskredit von 5 Milliarden mit allen Stimmen gegen die des Abg. Liebknecht bewilligt wurde, hat nur der Reichskanzler gesprochen. Er gab eine offizielle Aufklärung über die Vorgeschichte des Krieges, indem er sagte:

«Die Verantwortung an diesem grössten aller Kriege liegt für uns klar. Die äussere Verantwortung tragen diejenigen in Russland, die die allgemeine Mobilisierung der russischen Armee betrieben und durchgesetzt haben. Die innere Verantwortung aber trägt die britische Regierung. Das Londoner Kabinett konnte den Krieg unmöglich machen, wenn es in Petersburg unzweideutig erklärte, England sei nicht gewillt, aus dem österreichisch-serbischen Konflikt einen kontinentalen Krieg der Mächte herauswachsen zu lassen. Eine solche Sprache hätte auch Frankreich gezwungen, Russland energisch von allen kriegerischen Massnahmen abzuhalten. Dann gelang unsre Vermittlungsaktion zwischen Wien und St. Petersburg und es gab keinen Krieg. England tat dies nicht. England kannte die kriegslüsternen Treibereien einer zum Teil nicht verantwortlichen, aber mächtigen Gruppe um den Zaren. Es sah, wie das Rad ins Rollen kam, aber es fiel ihm nicht in die Speichen. Trotz aller Friedensbeteuerungen gab London in St. Petersburg zu verstehen, England stehe auf Seiten Frankreichs und damit auch Russlands. Das Londoner Kabinett liess es zu diesem ungeheuerlichen Weltkrieg kommen, weil es ihm eine Gelegenheit zu sein schien, mit Hilfe seiner politischen Ententegenossen den Lebensnerv seines grössten europäischen Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu zerstören. So trägt England mit Russland zusammen vor Gott und der Menschheit die Verantwortung für die Katastrophe, die über Europa und die Menschheit hereingebrochen ist.»

Diese Darstellung ist einseitig.

Richtig ist, dass es «kriegslüsterne Treibereien einer zum Teil nicht verantwortlichen aber mächtigen Gruppe um den Zaren» gab.

Deutschland hätte dem aber ebenso Rechnung tragen müssen, wie es dies von England fordert. Es tat dies nicht, indem es die Form des österreichisch-ungarischen Ultimatums billigte, indem es die serbische Antwort nicht als Grundlage weiterer Verhandlungen gelten liess, indem es die Viererkonferenz zur Beilegung dieses Konfliktes, die Grey angeboten hat, ablehnte, und indem es schliesslich jenen nichtverantwortlichen Kreisen um den Zaren die entscheidende Macht in die Hände legte, als es die zwölfstündige Frist an Russland stellte. So arg gefährlich war die russische Mobilisierung nicht, dass eine Frist von 5 Tagen diese Bedrohung hätte unerträglich machen können. Es hätte schliesslich genügt, die russische Mobilisierung durch eine deutsche Mobilisierung ohne sofortigen Krieg zu paralysieren. Alles wäre gut geworden.

Es ist übrigens unbestreitbar, dass England, mag seine nachherige Handlung sein wie sie wolle, sehr lange ernstlich und ehrlich den Krieg vermeiden wollte. Wenn Deutschland nur halb soviel ernsten Willen an den Tag gelegt hätte, die Welt hätte nimmer dieses Grauen gesehen.

Das Urteil des deutschen Reichkanzlers über die Schuld am Krieg wird vor der Geschichte nicht Stand halten. Nicht England und Russland allein tragen die Verantwortung.

Der gestrige Tag brachte mir noch eine Überraschung.

Während die beiden ersten Kriegsnummern der «Friedens-Warte» von der Zensur nicht beachtet wurden, hat sich das Oberkommando in den Marken, wahrscheinlich durch den in der «Kölnischen Zeitung» vom 17. November erschienenen Angriff gegen das Blatt (sieh in den Eintragungen vom 25. November) direkt oder indirekt beeinflusst, die Manuskripte und Korrekturen der im Satz befindlichen Oktober-Nummer zur Vorzensur kommen lassen und hat fast alles als unzulässig erklärt. Von der ersten Manuskriptsendung, die ich gestern aus Berlin zurückerhielt, waren nur drei kleine, offizielle Äusserungen wiedergebende Absätze als zulässig erklärt. Unter den zurückgewiesenen befanden sich Abdrücke aus Artikeln, die in andern deutschen Zeitungen (Köln. Zeitung, Hilfe, usw.) bereits unbeanstandet erschienen waren. Dieser generellen Zurückweisung liegt eine unverkennbare Absicht zugrunde. Gelingt es mir nicht, eine Berufung durchzusetzen, so muss ich das Blatt während des Krieges eingehen lassen oder in der Schweiz herausgeben.