Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 8. Februar.

Gestern Abend bei einem Vortrag von Brieux gewesen. Er sprach über die Kriegsblinden und sonstige Elendsopfer des Gemetzels. Ohne jeden Ausfall gegen Deutschland, frei von Hass und Chauvinismus führte uns der hervorragende französische Dramatiker in wahrhaft ergreifenden Akzenten einen Ausschnitt des grossen Jammers vor, den der Krieg über sein Volk und Land gebracht hat. Vielfach sah man im Saal, in dem sich viele Landsleute des Vortragenden befanden, Leute sich die Tränen trocknen. Der Wohlklang der französischen Sprache, die Kultur des Ausdrucks beim Vortragenden, in den Dokumenten und Äusserungen einfacher Leute, die er zur Verlesung brachte, in der Haltung und in den Gesichtsausdrücken der, vorwiegend französischen Hörer, liess mein Herz immer an mein Hirn mit der brennenden Frage rütteln, warum sind wir mit diesem Volk im Krieg? Warum fügen sich Deutsche und Franzosen so furchtbare Wunden zu, warum zerstören sie sich gegenseitig ihre Jugend, ihr Glück, ihre Kraft und ihre Hoffnung. Welcher Wahnsinn hat das bewirkt, und welche Hirnerkrankung will dieses Fürchterliche noch zu etwas Gutem, Hohem sogar, stempeln und ein Glück nennen?

In meiner Nähe sass eine junge schlanke Frau in der französischen Tieftrauerkleidung. Ihre Züge waren abgehärmt, die Augen verweint. Auch Eine! Eine, wie sie zu hunderttausenden jetzt, auch bei uns, herumwandeln. Eine von jenen, die vor wenigen Monaten noch im Glück lebten, das ihnen eine Diplomatenberechnung roh zerstört hat. Welcher Wahnsinn ist über die Menschheit gekommen? Und wann werden wir endlich einsehen, dass es nicht die Nationen sind, die sich gegenseitig diesen Jammer zufügen, sondern die Einrichtung des Kriegs, die von den Molochpriestern des Hasses bei jedem Volk gepflegt und grossgezogen wurde. Es gehört zum abgefeimten Ritual dieser unerhörten Verbrecher, die durch ihre Handlung enflammten Instinkte auf die anderssprechenden Mitopfer ihrer Handlungen abzuleiten, und so sich selbst unversehrt und unbelästigt zu erhalten, während aller Hass, alle Abwehr nur ihnen gelten sollte. Jedes Volk trägt im eigenen Kreise die Schuldigen und sucht sie immer beim andern Volk.

Da schrieb mir gestern ein französischer Freund (D.) in deutscher Sprache (!) einen Brief, aus dem ich einige Stellen hier festhalten will.

«Vorgestern war ich in einer nicht entfernten Stadt, wo ich eine Kollegin — eine Professorin der deutschen Sprache am Töchtergymnasium — besuchte. Dieses arme reizende Mädchen hat ihren Bräutigam im Krieg verloren und steht jetzt einsam und hoffnungslos vor dem Leben. Und doch haben wir fast den ganzen Tag von deutscher Literatur — und auf deutsch — gesprochen, Gedichte von Goethe, Storm, Liliencron gelesen, und es war uns eine unausgesprochene und doch tiefe Pein, zu denken, dass wir diese Meisterwerke des menschlichen Geistes und Herzens nimmermehr ganz rein geniessen würden!»

Ist es nicht furchtbar zu sehen, was der Krieg alles zerstört, wie er diese aufblühende Kulturgemeinschaft roh vernichtet hat. So weit waren wir schon, und so tief vernichtet hat uns der Artilleriegeist, der verbohrte Machtkultus, der Wahn der «Realpolitik».

Wunderbar schildert Annette Kolb — eine der standhaft und immun gebliebenen — in ihren «Briefen an einen Toten» (Weisse Blätter, Januar 1916), was wir gehabt haben, wie verquickt die europäische Menschheit schon war:

«Sie waren ja, diese Völker, wo sie nur konnten, vor Ausbruch dieses Kriegs zueinander unterwegs: die Deutschen nach der Provence, die Französinnen mit Kisten und Schachteln nach München und Bayreuth, Autos, überfüllte Sleepings, Wanderer, wohin man sah, und statt der Salons ... hatten die Bahnhöfe ihre ,Habituées!’ Wer ein Haus besass, war von dem einen Wunsch beseelt, es wieder los zu werden, und nur unter den Politikern und Kapitalisten gab es noch einen Ausschuss, der es für dringend geboten hielt, dass Europa zu einem Spital zusammenbreche, sonst war schon das grösste Zueinander im Schwung: ein ewiges Kommen und Gehen, kein Verweilen, nirgends, bei niemand». —

Aber nachher werden wir uns mit chinesischen Mauern umgeben, werden geistige Inzucht treiben und weiter an der Vervollkommnung der Schiesstechnik arbeiten. Das wird das Ergebnis der «grossen» Zeit sein. Und noch manch Anderes. Ein bemerkenswerter Artikel der «Neuen Zürcher Zeitung» (7. Februar), «Innerpolitische Zukunftsfragen in Deutschland; von einem deutschen Liberalen in Deutschland» betitelt, äussert die Sorgen freiheitlicher deutscher Kreise über die Gestaltung der Dinge im Reich nach dem Kriege. Die Furcht besteht dort, dass das Schreckensregiment der Zensur auch nachher aufrecht erhalten bleiben wird. «Einflussreiche Kreise sind am Werke, an verantwortlicher Stelle Stimmung für solche Einschränkungen der Pressfreiheit zu machen, indem sie zur Begründung darauf hinweisen, dass nach dem Friedensschluss die einsetzende Kritik dem Aufbau des Ganzen hinderlich im Wege stehen und diesen Aufbau gefährden müsse.» Darum also sind unsere Menschen ausgezogen, den Zarismus zu bekämpfen, um russische Zustände im eigenen Vaterland aufrichten zu helfen? Dafür sind Millionen gestorben, erblindet, verkrüppelt, siech geworden, um jene Freiheit zu erringen, die die öffentliche Meinung knebelt? Warum fürchtet man denn eine Kritik nach dem Krieg? — Ist es nicht, als ob die Nebel der Phrase sich allmählich senkten und die Umrisse der fürchterlichen Tatsachen immer klarer in Erscheinung träten? —

Ruinen, Armut, Totenkult sollen dem Volke als die Errungenschaft der «grossen» Zeit bleiben, und ein versiegeltes Maul, damit es ihm nur nicht einfalle, die «göttliche Weltordnung» zu lästern, oder ein banges «Warum?» auszustossen.

Was uns bleiben wird? Harden — der wieder Erlaubte — hat es («Zukunft», Nr. 18, S. 51) in einer Anrede an Lloyd George sehr deutlich ausgeführt:

«Was aber soll werden? Europa verblutet. Wir wollen heute nicht zählen, wie viele Männer gefallen, verkrüppelt sind; überall waren die geistig regsten voran. Vierhunderttausend Millionen Mark hat der Krieg wohl schon aufgezehrt; vielleicht eine halbe Billion. Noch ein Jahr, zwei Jahre: neue Verwüstung, Verarmung, die noch den Enkel drückt, den Urenkel belästigt; Verzwergung der Wirtschaft; Rückschrumpfung der Lebenssitten in die Formen, die bei uns die Reichsgründung weitete. Amerika, das die Machtwerber von Krieg reden lässt, nicht im Traum aber an Krieg denkt, wird, ohne eigene Anstrengung, in Weltherrschaft gehoben. In die Vereinigten Staaten muss wandern, wer sehen will, wie klug besonnener Reichtum vor dem Erdbeben hauste. Den Bürgern der verfeindeten Länder wird Anleihe Steuer; der Staat Geschäftspartner, der die Hälfte jedes Gewinnes einstreicht. Monopole, Eingrenzung des Gewerbes und Handels, Beamtenaufsicht, Abmessung des Bedarfes, vor dem Angebot der Massengüter hohe Deiche: lohnt Privatwirtschaft noch oder naht die im Kommunistenmanifest verheissene Zeit? Je länger der Kampf und die Wertzerstörung dauern, desto dichter umnebelt sich die Hoffnung, als Sieger Entschädigung von den Kriegskosten zu erlangen. Das Volk, das zwei Kriegsjahre zweier Grossmächte bezahlt hätte, würde ein Bettlerschwarm, eine Pustel Europas. Welches könnte sich in zehnjähriger Fron für den Eroberer schicken, der so lange das Land besetzt hielte? Auch die Seelen würden mählich zerrüttet. Entwöhnung von Ehe, Heim, Alltagsarbeit des Bürgers. Irgendwo bräche das Staatsgefüge (nur eins?); und abermals hätten Nachbarn und Ferne Verlust und Plage».

Welch’ verheissungsvolle Perspektive. Nur schade, dass man uns verlachte, als wir sie vorher gezeigt, vorher, wo die Möglichkeit des Vermeidens noch gegeben war. Was nützt jetzt der Trost, den der «Zukunft»-Seher hinzufügt: «Nur von der gemeinen Not des Erdteils, nicht von gräulicher Sondergefahr ist Deutschland bedroht».